Herzlich Willkommen

Pfarrer Ekkehard de Fallois

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Unter dem Punkt PREDIGTEN finden Sie aktuelle Predigten zum nachlesen und auch für die Menschen die wegen Corona nicht in die Kirche kommen können.

Letzter Nacht-Gedanke im Morgengrauen am Mittwoch, den 20.05.2020

Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen (Römer 8, 12)

Ich wollte auch ganz bewusst keine x-te Corona-Andachtsreihe schreiben mit Auslegungen zu Bibeltexten oder erbaulichen Erlebnissen und Geschichtchen. Nein, ich wollte einmal ganz “weltlich” reden ohne fromme Brille, mal politisch, mal literarisch, mal musikalisch, mal eher journalistisch. Und damit vielleicht ein bisschen von dem umsetzen, was ich in Dietrich Bonhoeffers Programm einer nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe und der weltlichen Rede von Gott entdeckt habe, und was ich in dem Pegnitzer Konzept der 10vor11-Gottesdienste 1997 im Gegenüber, bzw. Miteinander und Ineinander von “Am Puls der Zeit” und “Impuls zum Leben” mitenwickelt habe, das mich sehr geprägt hat: Gott ist mitten in der Welt überall und zu jeder Zeit zu entdecken und zu erfahren, nicht nur in abgegrenzten fromm-sakralen Zonen. Es kann gar keinen Bereich ohne Gott geben. Dieser Grundüberzeugung dienen jeweils meine biblischen Überschriften.

Und so bin ich fast versucht zu sagen: Das Virus hat etwas geschaffen, was ich mir als Pfarrer natürlich immer auch wünsche: Es steckt an. Allerdings mit dem nicht ganz unerheblichen Unterschied: Das Virus steckt mit einer Krankheit an. Mich hat der lebendige Gott infiziert. Und seine Infektion ist das Leben. Das pralle, volle, reiche Leben mitten in dieser Welt und weit darüber hinaus.

Danke für euer Mitlesen! Und bis bald – analog und Aug’ in Auge!

Euer Ekkehard de Fallois, Pfarrer an St. Marien zum Gesees

PS: Wenn ihr wollt, könnt ihr mir gerne eure Meinung zu dem ein oder anderen Gedanken oder zu der ganzen Reihe insgesamt schreiben, was euch angeregt oder aufgeregt hat, was euch gefreut hat oder was ihr kritisch seht: ekkeharddefallois@gmx.de. Ich freu mich über Rückmeldungen!

Nacht-Gedanke am Dienstag, den 19.05.2020

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.

Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn (Römer 14, 7-8)

Triage (französisch; sprich: triaasch; auf deutsch: Einstufung, Auswahl) – ein ethisches Dilemma: Der Begriff war mir bis zu diesen Corona-Wochen neu, nicht aber das Phänomen, denn davon hat mir mein Sohn Jonathan öfter erzählt von seiner Arbeit als Arzt auf der interdisziplinären Intensivstation der Leipziger Uniklinik. Man versteht darunter die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung. Vor allem während der starken Grippewelle 2017/18 kam es vor, sagte er, dass auf ihre Station mehrere schwerstkranke Menschen gleichzeitig kamen, die in anderen spezialisierten Stationen nicht mehr behandelt werden konnten, weil sich multiple “Baustellen” im Krankheitsverlauf gezeigt hatten. Dann galt es schnelle Entscheidungen zu treffen: Was und vor allem wer wird zuerst behandelt. Wessen Überlebenschancen sind am größten. Italienische Ärzte in Bergamo standen immer wieder vor diesem Dilemma. Hat man zwei Patienten, aber nur einen freien Platz auf der Intensivstation oder nur ein Beatmungsgerät, wird ein ansonsten gesunder jüngerer Patient einem älteren Patienten mit Vorerkrankung vorgezogen, weil er langfristig die bessere Prognose hat. Was aber, wenn die Abgrenzung nicht so eindeutig ist und zum Beispiel der jüngere Patient Vorerkrankungen hat und der ältere Patient ansonsten gesund war? Wo genau sind die Grenzen zu ziehen?

Der Begriff stammt ursprünglich aus der Militärmedizin. Im Krieg gab es häufig die Situation, dass es viele Verletzte gab, die medizinischen Kapazitäten in Form von Ärzten, Medikamenten, chirurgischen Möglichkeiten oder Transportmöglichkeiten aber nicht ausreichten. Deshalb versuchten die Ärzte einzuschätzen, wer die größeren Überlebenschancen hatte. Diese Patienten wurden dann zuerst behandelt. In der Militärmedizin gibt es Triage bereits seit über 200 Jahren. Vor Corona fand Triage vor allem in Notaufnahmen, bei Massenunfällen, Naturkatastrophen oder Terroranschlägen Anwendung. Es gibt allerdings keine einheitlichen Richtlinien mit weltweiter Gültigkeit für Triage, sondern verschiedene Systeme. In der deutschen Notfallaufnahme ist das Manchester Triage System (MTS) Standard: Die Behandlungsreihenfolge wird mit Farben festgelegt: Rot für absolute Lebensgefahr, Orange für dringenden Arztbedarf und Gelb bzw. Grün bis Blau für nicht dringenden Arztkontakt.

In Italien mussten die überlasteten Ärzte solche Bewertungen vornehmen. Nur Patienten mit besserer Prognose bekamen einen Platz auf der Intensivstation. Angetreten, um Menschen zu helfen und sie zu retten, wurden die Ärzte in den schlimmsten Tagen der Corona-Pandemie zu Herren über Leben und Tod. Um sie in dieser Situation etwas zu entlasten und ihnen ein Hilfsmittel an die Hand zu geben, legte die „Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Schmerzlinderung, Reanimation und Intensivtherapie“ am 7. März 2020 fest, dass bei der Verteilung der Plätze auf den Intensivstationen diejenigen Patienten, die eine höhere Lebenserwartung haben, zu bevorzugen seien.

Aber nach welchen Faktoren sollen Entscheidungen getroffen werden? Nach der Schwere der Erkrankung, nach den Begleiterkrankungen, dem Alter des Patienten, der Anzahl von möglicherweise geretteten Lebensjahren? Damit stellt sich die Frage nach der Wertigkeit des Lebens: Ist ein längeres Leben wertvoller als ein kürzeres? Haben jüngere Menschen einen größeren Anspruch auf Hilfe als ältere Menschen? Haben ansonsten gesunde Menschen ein höheres Recht auf maximale medizinische Betreuung als kranke und geschwächte Menschen? Gibt es Altersgrenzen, und wenn ja: Wird ein 79-Jähriger noch behandelt, während dem 80-Jährigen der Zugang zur intensivmedizinischen Versorgung versperrt wird? Wird ein älterer Patient ohne gesundheitliche Beeinträchtigung einer jungen Mutter mit Vorerkrankung vorgezogen? Was ist mit der Gleichheit und der Gleichberechtigung der Menschen? Und was macht es mit Ärzten, die solche Entscheidungen treffen müssen? In Deutschland gibt es – anders als in Italien – bisher keine entsprechende Richtlinie, wie Triage im Falle von Corona anzuwenden ist. Wie gut, dass es bei uns während der Corona-Pandemie noch nicht zu einer Überlastung der Intensivstationen gekommen ist und Ärzte nicht vor dieses ethische Dilemma gestellt werden mussten, sondern – frei davon – ihrer Arbeit nachgehen konnten, alles dafür zu tun, Leben zu retten und für jedes einzelne Leben zu kämpfen!

Nacht-Gedanke am Montag, den 18.05.2020

Wende dich zu mir und sei mir gnädig,

denn ich bin einsam und elend (Psalm 25, 16)

Zu meinem 11. oder 12. Geburtstag haben mir meine Eltern ein dickes Buch geschenkt, alle drei Bände des Jugendbuches “Die Höhlenkinder” des böhmischen Pädagogen und Schriftstellers Alois Tluchor, die er unter dem Pseudonym Alois Theodor Sonnleitner 1918-1920 veröffentlicht hat. Auch darin geht es um einen extremen Fall von Isolation. Nach den Verheerungen des 30-jährigen Krieges muss sich eine Großmutter vor der Meraner Gerichtsbarkeit in den Bergen Südtirols verstecken, weil sie der Hexerei angeklagt werden soll. Sie flieht mit ihrer 10-jährigen Enkelin, dem Waisenkind Eva, und einem weiteren Waisenjungen, dem 13-jährigen Peter, in ein völlig abgeschiedenes Tal. Beim Aufstieg durch eine steile Klamm wird sie von einer Steinlawine erschlagen. Der Ausgang des Tales ist jetzt versperrt. Sonnleitner hatte das Vorbild für diesen “heimlichen Grund” in den Sarntaler Alpen entdeckt. Von da an sind die beiden Kinder mutterseelenallein und von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten. Ohne jedes Werkzeug sind sie ganz auf sich selbst gestellt und gezwungen, ihr Leben nach Art der Urmenschen zu führen. Sie durchlaufen für den jugendlichen Leser wie im Zeitraffer die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Eisenzeit. Peter und Eva kennen die im täglichen Leben der damaligen Zeit benutzten Geräte und Werkzeuge. Sie wissen, welche wildwachsenden Pflanzen, Beeren und Pilze essbar sind und welche nicht. Sie müssen jetzt nur die zum Überleben notwendigen Geräte, Werkzeuge und Waffen aus den Stoffen, die die Natur ihnen bietet, herstellen und Essbares in ihrem abgeschlossenen Tal finden. Ihren ersten Unterschlupf finden sie in einer Höhle. Ein vom Blitzschlag getroffener Baum spendet ihnen das erste Feuer. Als bei extremem Tauwetter die Wohnhöhle überflutet wird ziehen sie zunächst in eine Erdhütte und dann in einen selbst errichteten Pfahlbau um. Zuletzt baut Peter ein Steinhaus auf der “sonnigen Leiten”, von der der Verfasser dieser Zivilisationsparabel sein Pseudonym ableitet. Die beiden Waisenkinder finden über den Überlebenskampf hinaus zueinander. Der gemeinsame Sohn Hans findet als Erwachsener einen Weg aus dem Heimlichen Grund und heiratet eine Frau. Die Geschichte der Menschheit geht weiter.

Auch eine Corona-Zeit wird unsere Gesellschaft nicht wieder in die Steinzeit zurückversetzen. Aber oft haben mir alte Menschen von ihren Erinnerungen an die “schwere Zeit” des Krieges und vor allem der ersten Nachkriegsjahre erzählt, von dem allgegenwärtigen Hunger, von der schwierigen Lebensmittelbeschaffung, dem Holzklauben in den umliegenden Wäldern usw. Westdeutschland hat nach dem Krieg mehr als 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, die mit Nichts ankamen und bei Null beginnen mussten. Wie in unserer Zeit wurden diese Menschen oft angefeindet. Im badischen Lahr trugen Männer bei einem Faschingsumzug ein Transparent: „Badens schrecklichster Schreck, der neue Flüchtlingstreck!!“ und im Emsland kursierte der Spruch von den drei großen Übeln: „Wildschweine, Kartoffelkäfer und Flüchtlinge“. Die Vertriebenen wurden häufig als „Polacken“ und „Zigeuner“ bezeichnet. Ich kenne solche Erzählungen auch aus Gesees. Aber – und das galt damals wie es heute gilt: Wer mit nichts ankommt, ist hochmotiviert, spuckt in die Hände, um sich ein Stück Wohlstand zu schaffen, ob das nun die beiden Höhlenkinder in Sonnleitners Roman waren oder die Hugenotten als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, ob die Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg, denen wir das Wirtschaftswunder der 50er Jahre verdanken, oder die Migranten aus unserer Zeit: Alle Länder, die Flüchtlinge aufgenommen und integriert haben, haben wirtschaftlich davon profitiert – zu jeder Zeit.

Nacht-Gedanke am Samstag, den 16.05.2020

Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist,

so haben wir Gemeinschaft untereinander (1. Johannes 1, 7)

Wir und das “Wir-us” (nach einem Tagesschau-Bericht vom 8. April): Die Corona-Pandemie hat nicht nur gesundheitliche, wirtschaftliche und psychische Auswirkungen, sondern auch soziale, die auch nach Beendigung der Krise nachwirken können. Eine Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin beschäftigt sich schon länger mit den Folgen katastrophaler Ereignisse. Henning Goersch, Professor für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement, hat bereits mehrfach Befragungen bei Betroffenen katastrophaler Ereignisse durchgeführt. Bei einer Untersuchung zur Corona-Krise sahen überraschender Weise deutlich mehr als die Hälfte der Befragten die aktuelle Ausbreitung des Coronavirus für sich persönlich als gefährlich bzw. sehr gefährlich an. Allerdings spielte die Angst vor der eigenen Ansteckung kaum eine Rolle, sondern eher die Angst vor Existenzbedrohung (14,8 %), vor dem Nichteinhalten der Regeln (12,3 %), vor Kontakteinschränkung und Einsamkeit (7,9 %). Die Angst vor Ansteckung und Erkrankung landete mit 4,1 % auf Platz 8, noch hinter Hamsterkäufen (4,6 %) auf Platz 6. Ebenfalls ungewöhnlich: Die Befragten schilderten in der Krise antisoziale und egoistische Verhaltensweisen ein wenig öfter als prosoziale. Bei anderen Katastrophen überwiegen dagegen die prosozialen Erfahrungen deutlich. Laut Professor Goersch liegt das vor allem daran, dass ein Katastrophenfall meistens lokal oder regional auftritt. Die Schäden sind sehr sicht- und fassbar. Das gemeinsame Ziel der Schadensbewältigung fördert Zusammenarbeit, Gruppenbildung und Kooperation, also prosoziales Verhalten, indem Menschen z.B. Sandsäcke füllen, einen Keller auspumpen, Schutt wegräumen. Auch Menschen außerhalb des Schadensgebietes werden motiviert, als ungebundene Spontanhelfer tätig zu werden.

In der Corona-Krise ist vieles anders: Der Schadensfall ist nicht sichtbar, weil das Virus unsichtbar ist und die davon Betroffenen sich in Quarantäne befinden oder schwer Erkrankte ebenso isoliert und damit “unsichtbar” die Intensivstationen der Krankenhäuser füllen. Die Alltagsunterbrechung durch das Virus führt auch nicht zu verstärkter Aktion, sondern notgedrungenerweise zum Rückzug in die häusliche Isolation durch Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Man kann ja tatsächlich nichts tun, um zur Bewältigung der Lage beizutragen, außer sich zurückzuziehen. Das sieht ganz anders aus, wenn z.B. das eigene Haus unter Wasser steht.

Trotz aller Kritik überwiegt laut der Studie das Vertrauen in offizielle Informationen: Die meisten Befragten fühlen sich von staatlicher Seite überwiegend gut informiert. Besonders gilt dies für die staatlich angeordneten Maßnahmen wie Quarantäne, Schließung öffentlicher Einrichtungen und Absage von Veranstaltungen. Das war der Stand um Ostern herum. Heute – einen Monat später – dürfte sich die Einstellung dazu grundlegend geändert haben und der Konsens über die Maßnahmen ist zerbrochen, im Gegenteil: Der Riss wird wieder tiefer. Weltverschwörungstheoretiker mit den abstrustesten Vorstellungen, Corona-Leugner und -ignoranten, Fundamentaloppositionelle – auch fundamentalistische Christen, wie man an den kleinen Schildchen sehen konnte, die auch in Gesees an vielen Stellen angeklebt wurden – erheben wieder ihre spaltenden schrillen Stimmen und streuen ihre Hassbotschaften unter die Menschen. Schon jetzt sehne ich mich manchmal nach den stillen Corona-Abenden ohne Verkehr draußen auf den Straßen oder am Himmel und nach dem großen Corona-Konsens in unserer Gesellschaft im Lockdown (Ausgangssperre, bei uns ja nur Ausgangsbeschränkungen) und Shutdown (Runterfahren des Computers oder der Wirtschaft; in Deutschland nur teilweise, weil ja Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Feuerwehr, Polizei, Medien, Krankenhäuser und Transport gar nicht runtergefahren wurden einschließlich der Menschen, die zur Zeit im Home-Office tätig sind)!

Nacht-Gedanke am Freitag, den 15.05.2020

Wende dich zu mir und sei mir gnädig,

denn ich bin einsam und elend (Psalm 25, 16)

Kaspar – Reinhard Mey

Sie sagten, er käme von Nürnberg her und er spräche kein Wort.

Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her und begafften ihn dort.

Die einen raunten: “Er ist ein Tier”. Die andern fragten: „Was will der hier?“

Und dass er sich doch zum Teufel scher! „So jagt ihn doch fort! So jagt ihn doch fort!“

Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt

„Kein Zweifel, dieser Irre ward vom Teufel gezeugt“

Der Pfarrer reichte ihm einen Krug voll Milch, der sog in einem Zug.

„Er trinkt nicht vom Geschirre, den hat die Wölfin gesäugt! Den hat die Wölfin gesäugt!“

Mein Vater, der in unsrem Orte Schulmeister war,

trat vor ihn hin, trotz böser Worte rings aus der Schar.

Er sprach zu ihm ganz ruhig, und der Stumme öffnete den Mund

und stammelte die Worte: „Heiße Kaspar, heiße Kaspar.“

Mein Vater brachte ihn ins Haus,“Heiße Kaspar“.

Meine Mutter wusch seine Kleider aus und schnitt ihm das Haar.

Sprechen lehrte mein Vater ihn, lesen und schreiben und es schien,

was man ihn lehrte, sog er in sich auf – wie gierig er war! Wie gierig er war!

Zur Schule gehörte derzeit noch das Üttinger Feld.

Kaspar und ich pflügten zu zweit, bald war alles bestellt.

Wir hegten und pflegten jeden Keim, brachten im Herbst die Ernte ein,

von den Leuten vermaledeit, von deren Hunden verbellt, von deren Hunden verbellt

Ein Wintertag, der Schnee lag frisch. Es war Januar.

Meine Mutter rief uns: „Kommt zu Tisch, das Essen ist gar!“

Mein Vater sagte: „…Appetit“. Ich wartete auf Kaspars Schritt.

Mein Vater fragte mürrisch: „Wo bleibt Kaspar? Wo bleibt Kaspar?“

Wir suchten, und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld.

Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt,

die Augen angstvoll aufgerissen, sein Hemd war blutig und zerrissen.

Erstochen hatten sie ihn dort am Üttinger Feld, dort am Üttinger Feld.

Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular.

„Gott nehm ihn hin in seiner Gnad’“, sagte der Herr Vikar.

Das Üttinger Feld liegt lang schon brach, nur manchmal bell’n mir noch die Hunde nach

Dann streu ich ein paar Blumen auf den Pfad, für Kaspar.

Kaum eine historische Gestalt hat die Phantasie der Menschen, aber auch die Literatur, die Medizin und die Psychologie so sehr angeregt wie das berühmteste Findelkind seiner Zeit: Kaspar Hauser (1812-1833). Ich hab schon als Jugendlicher den Roman von Jakob Wassermann “Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens” (1908) gelesen, den frühen Song von Reinhard Mey (1969) gehört und mit anderen gesungen und den Film von Werner Herzog über Kaspar Hauser “Jeder für sich und Gott gegen alle” (1974) angeschaut. In Corona-Zeiten mag er – ähnlich wie Robinson Crusoe – exemplarisch für vollkommene Isolation stehen, allerdings mit dem Unterschied, dass es Robinson als erwachsenen Mann auf die Insel verschlägt, während Kaspar Hauser wohl als Kind für längere Zeit völlig isoliert aufgewachsen ist, ohne menschliche Nähe und Zuneigung, und entsprechend in seiner Entwicklung zurückgeblieben und hospitalisiert war. Mediziner und Psychologen sprechen von Kaspar-Hauser-Syndrom. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich spricht sogar von einem Kaspar-Hauser-Komplex, um die absolute Vereinsamung des modernen Massenmenschen zu beschreiben, die ihn letztlich asozial und kulturverneinend werden lässt.

Nacht-Gedanke am Donnerstag, den 14.05.2020

Es wird sein in den letzten Tagen, so hat es der Prophet gesehn,

da wird Gottes Berg überragen alle anderen Berge und Höhn.

Und die Völker werden kommen von Ost, West, Süd und Nord,

die Gott Fernen und die Frommen,

zu fragen nach Gottes Wort.

Refrain: Auf, kommt herbei! Lasst uns wandeln im Lichte des Herrn!

(EG 426 Es wird sein in den letzten Tagen)

Was Besucher unserer Kirchen in Haag und Gesees aufgeschrieben haben:

Ich nütze die Corona Zeit und …

– backe Kuchen

– genieße mein Zuhause

– plane Hochzeit

– genieße die Ruhe

– lese viel, schreibe viel, telefoniere viel und nehme Lieder für Kinder auf

– koche viel mehr, lese gerne, und nähe Masken

– räume auf, bzw. miste aus

– arbeite das ab in der Arbeit und am Arbeitsplatz und fange auf, was die Kollegen im  

Home-office nicht schaffen

– räume auf

– genieße die Natur

– räume auf

– übe viel Geige

– gehe mit der Familie wandern

Wenn die Corona-Zeit am Abklingen ist, werde ich als erstes…

– FC Bayern schauen

– in den Biergarten gehen

– freu mich, wenn wieder Gottesdienst ist

– mit Freunden treffen

– liebe Menschen in die Arme nehmen

– … Ich schließe mich an

– heiraten

– feiern

– mir ein Fahrrad zulegen

– meine Kinder und Enkel umarmen!

– Urlaub nehmen, um mich auszuruhen

– meine Kinder und Enkel besuchen – umarmen!

– meine Freunde besuchen!

– Ausflüge machen

– Geburtstag schöner feiern

– mich mit Freunden treffen

– treffe ich mich mit Freunden

– gehe ich mit meinen Paten ins Giga Play

– umarme ich Bestemor & Bestefar (= Großeltern auf Norwegisch)

Nacht-Gedanke am Mittwoch, den 13.05.2020

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! (Matthäus 3, 2)

Nach einem interessanten FAZ-Artikel des luxemburgischen Wissenschaftsjournalisten und Physikers RangaYogeshwar – Teil 2

Doch inzwischen wird der Ton rauher. Die gefeierte Harmonie löst sich auf. Virologen stehen in der Kritik. Der Ruf nach Öffnung aller Lebensbereiche und Wiederherstellung der Situation vor der Pandemie wird lauter und schriller. Manche bagatellisieren die Pandemie oder zweifeln sie sogar an. Die Zahlen gehen zurück, die Krankenhäuser stehen leer, und das Eingesperrtsein nervt. Diese Reaktionen werden verstärkt durch ein bekanntes Paradox: Statt die Maßnahmen als Erfolg zu feiern und sich über den bisher glimpflichen Verlauf zu freuen, wächst die Kritik an den Experten. Ein Irrsinn: Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat?

Das zweite Kapitel der Pandemie hat begonnen und ihre Kennzeichen sind: Widerstand, Wut und Anschuldigung. Zu Zeiten der Pest richtete sich der Volkszorn gegen Ketzer, Juden oder Frauen. Heute erleben wir diese bemerkenswerte Wende der Politik im Verhältnis zur Wissenschaft. Zum Glück brennen heute keine Scheiterhaufen mehr, doch engagierte Wissenschaftler wie Christian Drosten erhalten bereits Morddrohungen. Erst wurden Virologen und Epidemiologen wie Stars gefeiert als aufklärende Lotsen in einem Meer der Ungewissheit, jetzt plötzlich passt ihr vorgeschlagener Kurs nicht mehr zum Fahrplan einer populistischen Politik, die sich an Umfrage- und Beliebtheitswerten orientiert, statt den Menschen Orientierungshilfen zu geben.

Schon die Entscheidung über das Kontaktverbot war in gewisserweise populistisch, da sie der Volksstimmung entsprach. Die große Mehrheit war von der Notwendigkeit überzeugt. Doch jetzt bräuchte es eine aufgeklärte und aufklärende Politik, die in der Lage wäre, den unbequemen Lockdown in seiner Notwendigkeit zu vermitteln und trotz verständlichem Widerstand dafür einzustehen. Wenn dagegen Politiker sagen: “Virologen ändern alle paar Tage ihre Meinung“ oder vom “Widerspruch der virologischen und epidemiologischen Positionen“ sprechen, dann braucht man sich nicht wundern, wenn der Basar für Lockerungen eröffnet ist. Alle fordern Erlösung: Lobbyisten, Hotelbesitzer, Sportclubs, genervte Eltern usw., entgegen allen Warnungen der Wissenschaft. Selbst die dramatischen Anstiege der Sterberaten werden ignoriert. Covid-19 ist erheblich gefährlicher als bisher angenommen.

Die berechtigten Warnungen der Wissenschaft vor einer zweiten Welle werden abgetan, so wie schon 1918, als die sogenannte “spanische Grippe” nach dem Aufheben der Kontaktverbote noch einmal heftig zuschlug. Die damaligen Fallzahlen belegen, wie bedrohlich eine zu frühe Öffnung ist. Heute wollen wir keine analytischen Denker, die uns schlechte Nachrichten verkünden und uns weiterhin einsperren wollen, sondern wünschen uns Erlöser, die uns von der Last dieser ansteckenden Geißel befreien. In dieser Befreiungsphase wird aber wissenschaftliche Klarheit vernebelt und die Argumentation wandert in den Talkshows ins Emotionale ab. Bald beginnt das dritte Kapitel, wenn die Wut und die Schuldzuweisungen in eine kollektive Verdrängung münden. Wir werden unser Leben wieder öffnen und werden verdrängen, dass diese Freiheit einen Preis hat. Wir werden uns darauf einigen, dass es ja immer auch andere Zahlen und andere Studien gibt und werden betonen, dass wir nach vorn schauen müssen und nicht zurück. Das Verdrängen können wir gut. Wir fliegen und verdrängen das Klima, wir kaufen billige T-Shirts und verdrängen, wo und wie sie hergestellt werden. Wir wissen um die heimatlosen Flüchtlinge in den überfüllten Lagern, doch wir schauen weg. Wir alle sind Meister im kollektiven Verdrängen, denn nur so lässt sich erklären, dass wir in einem Jahrhundert gleich zwei Weltkriege führten und inzwischen wieder zu Exportmeistern der Rüstungsindustrie aufgestiegen sind. Bald werden wir im Sonnenschein durch Fußgängerzonen schlendern und in den Schaufenstern nach Sonderangeboten suchen. Auf einem Ausverkaufstisch stapeln sich Restbestände: Masken zum Schnäppchenpreis, doch niemand greift zu.

Nacht-Gedanke am Dienstag, den 12.05.2020

Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel

und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet (Apostelgeschichte 2, 42)

Nach einem interessanten FAZ-Artikel des luxemburgischen Wissenschaftsjournalisten und Physikers RangaYogeshwar – Teil 1

Epidemien zeigen scheinbar wiederkehrende Muster: Die “London Bills ofMortality” etwa waren eine Sammlung der Todesstatistiken im Pestjahr 1665. In London wurde schon früh genau Buch geführt über die wöchentlichen Krankheiten und Todesfälle. In einer August-Woche des Jahres 1665 zählte man in den 97 Gemeinden “innerhalb der Mauern” insgesamt 1268 Tote. Zehn davon starben am Kindbettfieber, 116 erlagen dem Alkohol, 42 starben an den Folgen einer Zahninfektion und 366 Menschen an der grassierenden Pest. Diese vergilbten Statistiken erlauben einen Einblick in den Alltag einer Pandemie vor fast 500 Jahren. Auf demselben Mitteilungsblatt wurde auch der aktuelle Brotpreis bekanntgegeben. 2020 zeigen die elektronischen Anzeigen der Johns-Hopkins-Universität oder des Robert-Koch-Instituts zwar keine Brotpreise mehr an, dafür sind die Informationen zur Covid-19-Pandemie genauer: Wir sehen rote Punkte, gelbe Linien und blaue Balken, als ob der Tod bunter geworden wäre.

Daniel Defoe, der Autor des weltbekannten „Robinson Crusoe“, verfasste als anonymer Autor ein “Journal ofthePlague Year 1665” (und so bin auch darauf gestoßen). Sein Buch ist ein lebendiger Bericht über die große Pest, das neben einigen Zahlentabellen auch die damaligen Verordnungen und Erlasse auflistet, bekanntgegeben vom Lordbürgermeister und dem Rat der freien Bürger von London. Schon 1665 waren die Kontaktverbote klar und eindeutig.

Auch Masken wurden früh zum sichtbaren Accessoire im Kampf gegen die Seuche. Auf alten Illustrationen sieht man vermummte Pestdoktoren mit schnabelförmigen Masken. Die Masken waren gefüllt mit Duftstoffen von Amber, Kampfer, Myrrhe bis hin zu Zitronenmelisse und wogen den Träger in Sicherheit vor der schlechten Luft, der “mal’aria”. Die Pestdoktoren selbst waren angesehene Persönlichkeiten, so wie heute die Virologen und Epidemiologien. Später wurden die Masken zum typischen Element des venezianischen Karnevals. Diese besondere Verbindung zwischen Karneval und Pandemie: Es gab sie also schon weit vor Heinsberg!

Auch bei vergangenen Pandemien wurde die drohende Gefahr zunächst ignoriert. In London kursierten schon zwei Jahre vorher Gerüchte über einen Pestausbruch in Holland, doch die Gefahr wurde verdrängt, bis zu Beginn des Dezembers 1664 zwei Männer in London an der Pest verstarben. Auch die Ereignisse im fernen Wuhan lösten bei uns keinen nennenswerten Alarm aus, doch als dann in Bayern und in Heinsberg die ersten Covid-19-Fälle auftraten, änderte sich die Betroffenheit. Die Bilder aus Norditalien zeigten die drohende Gefahr, und noch bevor die Politik konkrete Maßnahmen beschloss, vollzog sich in unseren Städten ein nichtverordneter Shutdown.

Anhand der Mobilitätsdaten von Apple und Google kann man sehen, wie die altbekannten Begleiterscheinungen der Pandemie – Angst, Abschottung und Rückzug – Anfang März einsetzten. Als sich die Politik dann am 23. März auf ein “umfassendes Kontaktverbot“ einigte, hatten die Menschen schon gehandelt. Die politische Entscheidung war sicher richtig, doch im Kern spiegelte sie nur die vorherrschende Meinung in der breiten Bevölkerung. Die Politik griff die Stimmung im Land auf und setzte sie um. Schnelles Handeln war gefragt. Und wer von den Ministerpräsidenten vorpreschte, wurde mit steigenden Beliebtheitswerten belohnt.

In dieser Phase waren sich Politik und weite Teile der Gesellschaft einig (fast wie in der Jerusalemer Urgemeinde; deshalb mein Bibelzitat als Überschrift). Die Wissenschaft lieferte die Argumente. In Talkshows wurde nicht gestritten, sondern erklärt und informiert, und die Namen der Virologen und Epidemiologen wurden bekannt wie die der Fußballstars.

Nacht-Gedanke am Montag, den 11.05.2020

Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Matthäus 28, 20)

In dem Live-Blog im Internet zur Corona-Krise erschien gestern, am 10. Mai, ein alarmierender Eintrag: “Die katholische Laienbewegung ‘Wir sind Kirche’ hat ein Schreiben von mehreren Geistlichen kritisiert, in dem Verschwörungstheorien zur Corona-Pandemie unterstützt werden. Die Kirchenvolksbewegung sei entsetzt darüber, wie verantwortungslos bekannte Kirchenmänner wie der ehemalige Regensburger Bischof und frühere Präfekt der Glaubenskongregation, Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, sich zu Handlangern von Verschwörungstheoretikern machen ließen. Das Schreiben hatte der frühere Vatikan-Botschafter in den USA und erklärte Gegner von Papst Franziskus, Erzbischof Carlo Maria Vigano initiiert. In dem Schreiben mit dem Titel ‘Ein Aufruf für die Kirche und für die Welt – an Katholiken und alle Menschen guten Willens’ werden die Corona-Maßnahmen scharf kritisiert. Außerdem wird behauptet, ‘dass es Kräfte gibt, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen’. Auf diese Weise wollten sie dauerhaft ‘Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung und der damit verbundenen Kontrolle über Personen und der Verfolgung all ihrer Bewegungen’ durchsetzen. ‘Diese illiberalen Steuerungsversuche sind der beunruhigende Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht.’” Gottseidank gibt es auch andere Stimmen. So schrieb der Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer, bei Facebook, er sei „einfach nur fassungslos, was da im Namen von Kirche und Christentum verbreitet wird: Krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampf-Rhetorik, die beängstigend klingt“.

Ebenso erschreckend finde ich die kleinen einlaminierten Zettel, die an vielen Stellen in Gesees an Schildern hängen. Dort heißt es unter der Überschrift “Gottes Heilsplan gegen Corona – Wenn ich den Himmel verschließe, sodass es nicht regnet (z.B. letzten Sommer in Australien), oder den Heuschrecken gebiete, das Land abzufressen (z.B. jetzt in Ostafrika), oder wenn ich eine Pest (z.B. Coronavirus aktuell fast weltweit) unter mein Volk sende und mein Volk, über dem mein Name ausgerufen worden ist, demütigt sich, und sie beten und suchen mein Angesicht und kehren um von ihren bösen Wegen, so will ich es vom Himmel her hören und ihre Sünden vergeben und ihr Land heilen. Wort Gottes, 2. Chronik 7, 13-14”

Nein! Weder die verheerenden Feuer in Australien noch die Heuschreckenplage in Ostafrika noch die Corona-Pandemie sind Strafgerichte des Gottes, der in Jesus Christus sein menschenfreundliches liebendes Angesicht gezeigt hat. Man kann doch nicht alles, was zum großen Teil der Mensch durch seine schwerwiegenden Eingriffe in die Schöpfung verursacht hat, Gott in die Schuhe schieben und ihn dafür verantwortlich machen!

Nein! Hier sind Anteilnahme für die Opfer, Solidarität mit den Leidenden und Vertrauen in Gottes Wege mit uns Menschen gefragt – und durchaus auch Vertrauen in verantwortliche Wissenschaftler und Regierende. Demut, Gebet und Umkehr dürfen dabei eine wichtige Rolle spielen, aber nicht aus Angst vor Gottes Strafgericht, sondern aus Respekt vor Gottes Schöpfung, aus Liebe zu den Menschen in der Nachfolge Jesu und aus dem österlich angstfreien Vertrauen in Gottes Willen zur Bewahrung und Rettung.

Orgelstück zu Kantate von Marko Zdralek

Nacht-Gedanken am Samstag, den 09.05.2020

Höret, ihr Völker, des Herrn Wort und verkündet’s fern auf den Inseln und sprecht: Der Israel zerstreut hat, der wird’s auch wieder sammeln und wird es hüten wie ein Hirte seine Herde (Jeremia 31, 10)

Na? Reif für die Insel? Alle, die sich einerseits reif für die Insel fühlen oder die sich andererseits über ihre Isolation beklagen, denen sei noch einmal der Weltbestseller-Roman des Londoner Schriftstellers Daniel Defoe (1660-1731) “The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe“ (Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe“ aus dem Jahr 1719) empfohlen, nach dem schon fast eine eigene Literaturgattung benannt wurde, die “Robinsonade”.

“Robinson Crusoe“ ist eine moralische Geschichte. Statt den Worten seines frommen Vaters zu gehorchen und Jurist zu werden, zieht es ihn in die Welt. Kein Wunder, dass er Schiffbruch erleidet und sich als einziger Überlebender auf eine einsame Insel in Äquatornähe im Atlantik rettet. Er bekommt eine zweite Chance der Bewährung, allerdings fällt er vollkommen aus der Zivilisation heraus und muss noch einmal ganz im Naturzustand beginnen mit den wenigen Gegenständen, die er von dem havarierten Schiff retten konnte, unter anderem einer Bibel. Im besten Kolonialstil, passend in eine Zeit, in der Europas Großmächte um Kolonien stritten und die Überlegenheit der Weißen als gottgegeben ansahen, kultiviert er einen Teil der Insel, indem er den Boden urbar macht und Feldfrüchte anbaut und Vieh hält. Jahrelang lebt er völlig isoliert und ohne jeglichen menschlichen Kontakt. Dagegen sind unsere sechs Corona-Wochen nur ein Wimpernschlag. Bei Robinson waren es 25 Jahre, bevor er einen “Wilden” vor dem Kannibalismus rettet, ihm europäische Kulturtechniken beibringt und ihn missioniert, so dass er schon bald „ein guter Christ“ ist, sogar „ein besserer als ich“. Er nennt ihn Freitag. Auf diese Weise geläutert, hat der Held Robinson am Ende auch die Erlösung verdient. Nach 28 Inseljahren wird er durch ein vorbeisegelndes Schiff gerettet.

Für seinen Roman griff Defoe auf eine reale Geschichte zurück. Der schottische Bootsmann Alexander Selkirk hatte sich 1704 auf der Insel Más a Tierra, mitten im Pazifik und weit vor der chilenischen Küste gelegen, aussetzen lassen. Das war sein Glück, denn die morsche “Cinque Ports“ ging kurze Zeit später unter. Mehr als vier Jahre lebte er allein auf der menschenleeren, aber an Wasserquellen reichen Insel, bis ein vorbeifahrendes Schiff seine Rauchzeichen entdeckte und ihn an Bord nahm. Das vulkanische Eiland erhielt 1966 den Namen “Robinson Crusoe“. Heute leben dort etwa 1000 Einwohner. Aber der schottische Seefahrer bekam auch noch seine Insel, etwa 160 Kilometer entfernt, die Isla Alejandro Selkirk, die bis heute unbewohnt ist.

Als ich einmal in der Kindergottesdienstvorbereitung in die Runde der Mitarbeiterinnen gefragt hab: Welche drei Dinge würdet ihr auf eine einsame Insel mitnehmen, sagte ein Mädel als allererstes ganz spontan: “Eine Bibel.” Auf meine erstaunte Rückfrage: “Warum?”, antwortete sie schlagfertig und bedenkenswert: “Weil man mit diesem Buch nie fertig wird.” Sie hatte vorher nicht “Robinson Crusoe” gelesen.

Nacht-Gedanken am Freitag, den 08.05.2020

Hoffe auf den Herrn und tue Gutes; bleibe im Lande und nähre dich redlich (Psalm 37, 3)

In den sozialen Medien kursieren unzählige mehr oder weniger witzige Bilder, Videos usw, zur Corona-Krise mit all ihren Begleiterscheinungen. Neulich z.B. fand ich eine Aufstellung mit Urlaubszielen für das Jahr 2020 und eine ganz einfache, aber umso gemeinere Rechnung dazu. Überschrift: “Wähle deinen nächsten Urlaubsort”. Dann waren da einige nummerierte Reiseziele aufgezählt:

1. Schottland, 2. Italien, 3. Österreich, 4. Kroatien, 5. Frankreich, 6. Griechenland, 7. Israel, 8. Spanien, 9. Thailand, 10. Daheim, 11. Dänemark, 12. Portugal, 13. Schweden, 14. Malta, 15. Dominikanische Republik, 16. USA, 17. Bulgarien, 18. Ungarn, 19. Australien. Und dann die Aufgabe: 1. Wähle eine Zahl zwischen 1 und 19. Die 10. überspringst du am besten. Du willst ja unbedingt weg! 2. Multipliziere diese Zahl mit 3. 3. Addiere 3 dazu. 4. Das Ergebnis wieder mit 3 multiplizieren. 5. Zähle die Stellen der Zahl zusammen. 6. Nimm noch 1 dazu. 7. Mit dem Endergebnis landest du an deinem Urlaubsort 2020. Und? Wo bin ich gelandet? Immer nur daheim. Daheim. Daheim. Ganz Deutschland in Balkonien, Terrassien, Gartenien. Meine liebe Lissy freut sich. Ihr waren die weiten Fahrten auf gut Glück mit dem Auto in die Länder Osteuropas immer etwas unheimlich. Ich dagegen bin mit jedem Kilometer, den wir uns von Gesees (und von meinem Schreibtisch) entfernt haben, immer mehr aufgeblüht. Wir leiden nämlich an unterschiedlichen Krankheiten. Das ist uns erst in den vergangenen Jahren bewusst geworden. Heimweh und Fernweh heißen diese beiden Übel. Sobald wir irgendwo ganz weit weg angekommen sind, überfällt Lissy das Heimweh und die Sehnsucht nach Hause. Das tut richtig weh. Ich dagegen hab schon als Kind Landkarten geliebt und fange manchmal schon im Vorfrühling an, virtuell im Internet wenig befahrene Straßen rauszusuchen, mir die Bilder von spektakulären Landschaften, malerischen Ortschaften oder besonderen Kirchen anzuschauen und in Reiseführern zu blättern. Und dann packt es mich langsam wieder, das Reisefieber und ich würde am liebsten sofort meinen Rucksack packen und mich aufmachen, aufbrechen, ausbrechen, und dann: Einfach der Nase nach. In diesem Jahr dagegen bleibt wohl alle Sehnsucht ungestillt und mein Fernweh ungeheilt. Das tut weh. Kein Balkan, kein Moldawien, kein Odessa. Harte Corona-Zeiten. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als mich dem geflügelten Wort anzuvertrauen: „Warum nur in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah“, angelehnt an die Anfangsverse von Goethes Vierzeiler Erinnerung:

„Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah.

Lerne nur das Glück ergreifen,

Denn das Glück ist immer da.“

Was in meiner Psalm-Überschrift noch etwas biedermeierlich und engstirnig klingt, gefällt mir bei Goethe schon besser: “Denn das Glück ist immer da”, ja, auch bei uns, in unserer schönen Landschaft, bei den vertrauten Menschen, am besten verbunden mit dem gut biblischen Wort “sich aufmachen”. Das heißt ja auch “sich öffnen” für das, was uns unterwegs begegnet, in der Ferne wie in der Nähe. Sich auf das einlassen, was dran ist, und – warum nicht? – darin Gott entdecken.

Nacht-Gedanken am Donnerstag, den 07.05.2020

Refrain: Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde,

Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt.

2. Strophe: Der Herr wird nicht fragen:

Was hast du gewusst, was hast du Gescheites gelernt?

Seine Frage wird lauten:

Was hast du bedacht, wem hast du genützt um meinetwillen?

(aus dem modernen Lied: “Jetzt ist die Zeit” von Alois Albrecht)

Und noch ein Chat in der WhatsApp-Gruppe mit meinen Brüdern, die wir vor dem 82. Geburtstag meiner Mutter Ende März gegründet haben, um uns abzusprechen, zu informieren oder einfach nur im Gespräch zu bleiben. Zuerst haben wir mal ausgemacht, wer welche Strophe unseres Familien-Geburtstagsliedes “Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren” ihr wann per Telefon zum Geburtstag singt, weil an ein gemeinsames Feiern ja nicht zu denken war. Sie war den ganzen Tag allein und stundenlang am Telefon. Fünf Tage später, Ich: “Sagt mal ihr lieben Brüder, ich hab letzte Woche eine Frau zum 91. Geburtstag besucht. Die steht im dauernden Kontakt mit ihren Kindern und Enkeln per Skype usw. und fragte mich gleich nach unserer Hompage wegen meinem Corona-Nachtgedanken-Tagebuch. Wäre das nicht trotz aller Widerstände doch was für unsere Mutter?” Bertram: “Aber es stellt sich doch die Frage, ob sie das überhaupt will.” Ich: “Man müsste den Laptop, das Tablet, den PC – egal was – halt einrichten mit den wichtigsten Programmen, Internet-Zugang ermöglichen und ihr dann einen Crash-Kurs geben für Mails, Wikipedia, Anhänge, Ein- und Ausschalten usw.” Bertram: “Ohweh, ich seh schon Probleme beim An- und Ausschalten.” Johannes aus Mailand: “Gute Idee, wenn es tatsächlich jemand schafft, ihr das beizubringen: gaaanz langsam und vorsichtig und mit viiiiel Geduld. Aber sinnvoll wäre es natürlich für jetzt und nicht erst für die Zeit ‘danach’. Es wird noch lange dauern, bis Kontakte wieder analog funktionieren und gestattet sind – zumal mit jemandem aus der extremen Risikogruppe.” Dietrich, Mitte April: “Ich habe gestern mit ihr über Smartphone und WhatsApp gesprochen. Das hat sie komplett abgelehnt.” Ich: “Hast du was anderes erwartet? Ich denke, man muss ihr so ein Teil aufnötigen und dann einfach gut einführen. Ich finde, einen Versuch ist es wert.” Dietrich: “Dafür bin ich allerdings der völlig Falsche, wenn man meine Kinder fragen würde.” Inzwischen hatte Lissy Kontakt zu einem liebenswürdigen pensionierten Lehrer aufgenommen, der in der Familienbildungsstätte Computer-Kurse für Senioren gibt. Der hat uns sehr gut beraten und dann tatsächlich auch noch ein Tablet eingerichtet – wir hätten das selber gar nicht gekonnt -, so einfach wie möglich, aber mit den wichtigsten Funktionen. Ich, am 21. April: “Morgen kommt unser großer Auftritt bei der Mutter. Tablet ist da. Wir werden eure Nummern draufspielen und dann schaumer mal…” Bertram skeptisch: “Schaumer mal…” Dietrich ebenfalls skeptisch: “ Weiß sie schon von ihrem Glück? Wird spannend, wie’s klappt.” Johannes: “Viel Erfolg morgen, serviert es am besten auf silbernem Tablet.” Wir waren ja selbst skeptisch. Für meine Mutter war es die Erstbegegnung mit der digitalen Welt. Das hat sie immer weit von sich gewiesen und mit ihrem Alter begründet. Aber mein Eindruck war auch, dass sie sich manchmal doch ein wenig abgehängt gefühlt hatte, gerade in den Wochen der Corona-Isolation und vor allem von der Enkelgeneration. Also sind wir zu ihr hin. Und dann unsere Erfolgsmeldung: “Schön war’s bei der Mutter, ihr alten Unken! Sie hatte viel Spaß. Bombardiert sie mal nicht zu sehr mit WhatsApp. Sie braucht noch etwas Zeit. Aber das wird schon! 2 ½ Stunden waren wir jetzt bei ihr und haben ihr WhatsApp, Google und Wikipedia erklärt. Der Rest kommt später. Bin jetzt total geschafft, immer mit Mundschutz, aber es war wirklich sehr nett und Mutter hat sich toll und fröhlich drauf eingelassen und sich gar nicht so blöd angestellt. Der Rest ist Ausprobieren. Sie fängt ja wirklich bei Null an, ein Quantensprung!” Ja, das war wirklich ein wunderbarer Nachmittag. Seitdem ist sie doch ein ganz kleines bisschen näher an unsere Zeit herangerückt und wir können sie an unserem Leben teilhaben lassen. Bertram: “Ich bin überrascht. Prima, dass es so gut geklappt hat. Danke für euren Einsatz!” Johannes: „Danke für Idee, Einsatz und Mühe. War ja kurz per Videoanruf dabei: Sehr fröhlich! Bravi!”

Das ist nun wirklich ein durch und durch positiver Aspekt der Corona-Zeit. Vielleicht solltet ihr das auch mal versuchen mit euren alten Eltern und Großeltern. Nach meinen Erfahrungen kann ich nur sagen, es lohnt sich, und es ist nie zu spät!

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 06.05.2020

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,

so werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll Lachens

und unsre Zunge voll Rühmens sein (Psalm 126, 1-2)

Seitdem ich – dank Lissy – jetzt stolzer Besitzer eines Smartphones bin (ich hatte mich bisher standhaft geweigert; da hat sie mir einfach eines mitgebracht und aufgenötigt), steht es nicht mehr still und ich bin nicht nur fröhlicher WhatsApp-Singer für alle Kinder und Familien weit über die Grenzen von Gesees hinaus, sondern auch im regelmäßigen WhatsApp-Austausch mit meinen Brüdern. Da muss man nicht groß telefonieren und weiß am Ende nicht, was man sagen soll, und Besuche sind zur Zeit eh nicht erlaubt und auch sonst nicht so einfach – Mailand liegt halt nicht grad um die Ecke. Stattdessen also WhatsApp: Ein kurzes Sätzchen, ohne groß auf Rechtschreibung oder Grammatik zu achten, dazu ein angehängtes Foto, ein Song, ein youtube-Video, eine Karikatur, ein Zeitungsartikel aus dem www. und weg damit! Dann wieder ein Gruppen-Chat. Jeder gibt seinen Senf dazu. Mal die allerneusten Corona-Gags geteilt, mal als Antwort und Kommentar nur ein paar Emojis verschickt. Auf diese Weise erfahre ich schnell, was in Mailand los ist. Chat an Ostern: Dietrich: “Ich wünsch euch allen frohe Ostern!” Johannes: “Buona Pasqua!” Ich: „Auch von mir: Gesegnete Ostern!” Und ein Bild von der Dämmerung in der Geseeser Kirche. Bertram: “Frohe Ostern! Hab Dienst bis 17:15” Dietrich schickt ein Bild von seinem Kulmbacher Garten mit bereit gestelltem Grill und freut sich auf ein Bier. Ich: “Österliches Freudenbier – tät ich doch glatt eins mittrinken”. Dietrich mit Bild von der Bierflasche: “Einladung steht!” Ich: Geht nur mit Leitung nach Gesees – Versammlungsverbot, Ausgangsbeschränkungen.” Und dann Johannes aus Mailand: “Freut euch am Garten, und dass ihr spazieren dürft. Hier ist alles total dicht – im 8. Stock! Und weitere drei Wochen. Jaul! Lasst’s euch schmecken!” Ich: “Oh, ihr Armen! Da kommt keine österliche Freude auf. Da geht’s hier bei uns auf dem Land erheblich gechillter zu. Hat schon auch Vorteile trotz fehlender Scala und San Siro.” Johannes fünf Tage später: “Wir Lombarden sind ja nun schon seit dem 16. Februar dabei.“ – in Quarantäne und strenger häuslicher Isolation; keiner darf vor die Tür außer einzeln zum Einkaufen – „Wir setzen die Hoffnung auf den 4. Mai, dann soll sich angeblich was tun. Aber die blanken Zahlen sind immer noch gruselig, obwohl wir nicht verstehen, wer sich wie noch wo ansteckt, wenn doch alle daheimbleiben und das Einkaufen zur Qual wird, weil man die Maske braucht.” Und am 23. April als Antwort auf meinen Bruder Dietrich, der – obwohl negativ getestet – zwei Wochen in Quarantäne muss und sich darüber freut, weil er in seinem Garten arbeiten kann: “Ich fass es nicht! Jungs, wo bleibt die Motivation? Hier im Corona-Epizentrum, wie man das wohl gerade nicht ganz ohne Stolz sagt, ist echt viel Arbeit: Wir kontaktieren wie die Verrückten gegen die Kontaktsperre und produzieren Nähe gegen die Distanz, echt anstrengend. Wenn ich bedenke, dass das noch ein Jahr so weitergeht – davon gehen hier langsam alle aus -, dann wird mir ganz anders. Aber ihr lebt ja im Corona-Light-Land, Glückwunsch und ein bisschen Neid auf diese Freiheiten!” Und dann am 27. April die überraschende Nachricht aus Mailand: “Zu eurer aller Info: Seit heute weiß es hier der Kirchenrat: Im Sommer sind wir zurück in Bayern! Nix mehr mit Milano und Italia. Warum?” Ein medizinisches Gutachten hat eine Grunderkrankung meiner Schwägerin so eingestuft, “dass zona rossa wie Norditalien gar nicht geht. Und dann kommt die Fürsorgepflicht der EKD, die uns abzieht. So ein Mist, wobei mit dolce vita hier auf unabsehbare Zeit ja eh nix wäre”. Jetzt kommt er also wieder zwangsweise zurück aus der Metropole Mailand. Dann kann die Familie endlich wieder vereint werden. Meine Schwägerin ist seit Beginn der Corona-Krise mit einer Tochter in Deutschland. Ich bin gespannt, wo es die Familie hin verschlägt. Töchterchen Livia hat mit ihren 17 Jahren dazu eine klare Meinung: Sie “hätte gerne was, was moderner und großstädtischer ist als Mailand.” Da gibt‘s jetzt in Bayern nicht so viel… Ich bin jedenfalls heilfroh, gerade in dieser Zeit in einem „Corona-Light-Land“ im Grünen zu leben, mit Garten und Natur um uns herum. Wochenlang im 8. Stock eingesperrt zu sein, muss doch ein einziger Alptraum sein!

Nacht-Gedanken am Dienstag, den 05.05.2020

Danket dem Herrn; denn er ist freundlich,

und seine Güte währet ewiglich (Psalm 107, 1)

Mit großem Dank für Reaktionen, die mich sehr bewegt und berührt haben:

Lieber Ekki, dich haben wahrscheinlich schon viele Dankes-Nachrichten v.a. aus der Whatsapp-Gruppe erreicht. Ich wollte dir auch gerne noch persönlich schreiben und Danke sagen! Nicht nur die Lieder und Videos für die Kinder, auch das, was auf der Kirchen-Homepage veröffentlicht wurde, hat mir sehr gefallen und gut getan. Auch unsere Pfarrerin hier hat immer wieder Video-Botschaften aufgenommen, die wir auch online veröffentlicht haben. Zusammen mit den Sachen aus Gesees hat es für mich trotz aller Entbehrungen ein bisschen Oster-Feeling und natürlich auch heimatliche Gefühe aufkommen lassen. Die Orgelstücke zu veröffentlichen war eine klasse Idee! Ich habe meiner Oma am Ostersonntag die Stücke übers Telefon vorgespielt. Sie war sehr gerührt die vertrauten Klänge in dieser Zeit zu hören. Ich habe zusammen mit einem Bläserkollegen aus unserem Posaunenchor am Ostermorgen einige Osterchoräle an verschiedenen Stationen in unserer Gemeinde gespielt, auch vor dem Pflegeheim. Die Menschen waren sehr gerührt. Wir sind ja bei uns noch etwas freier als ihr in Bayern. So versucht eben jeder, das Beste aus der Situation zu machen in der Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit wieder besser wird und wir uns wieder persönlich begegnen können. Wer weiß, wann wir mal wieder nach Gesees kommen können… Ich wünsche dir, Lissy und eurer Familie weiterhin alles Gute, bleibt gesund und wir freuen uns auf ein Wiedersehen.

Hallo Lissy, hallo Ekki, … Heute habe ich mich von Sandra zu der „Kinder“ WhatsApp Gruppe hinzufügen lassen und sie hat mir auch alle alten Audio- und Videodateien zugeschickt. Die höre und gucke ich mir jetzt nach und nach an. Heute beim Wäscheaufhängen habe ich schon „einfach spitze“ und „eingeladen zum Leben“ mitgesungen. Natürlich nur, als keiner sonst in der Nähe war, du weißt ja, dass ich nicht singen kann. Deine Botschaften an die Kinder und Familien über diesen Weg finde ich jedenfalls klasse und ich habe mich gestern auch über die vielen Kreidebotschaften vor den Häusern gefreut. Und auch über die Kinderbilder an der Leine in der Kirche. Überhaupt finde ich es schön, dass es in der Kirche immer wieder etwas zu entdecken gibt. Dass wir am Samstag den Altar „nackt“ vorgefunden haben und gestern eine mit Osterglocken geschmückte Dornenkrone. Vielen Dank an unsere Mesnerinnen dafür. Ich habe mich neulich auch ganz besonders über den Palmesel in der Kirche gefreut. Wir sind am Freitag und am Samstag sehr viel  Fahrrad gefahren und sind in jeden Ort, durch den wir kamen, kurz in die Kirche gegangen. Alle – bis auf eine – waren geöffnet und überall gab es die Möglichkeit eine Kerze anzuzünden. Fast überall brannten auch schon welche. Wie schön, dass es an allen Orten gelingt, die Kirchen offenzuhalten.

Lieber Herr Pfarrer, gestern erhielten wir Ihren liebevoll geschriebenen Osterbrief und waren tief berührt. Von ganzem Herzen Dank dafür! Ja, wir werden das Osterfest feiern, diesmal halt alleine. Mein Anhänger mit dem Jesuskreuz ziert wieder meinen Hals und macht mich stark. Wie recht haben Sie mit ihren Worten. Es wäre  wünschenswert, wenn alle Menschen ihren Lebensstil überdenken und Dankbarkeit, Zufriedenheit und Nächstenliebe wieder in den Vordergrund rücken würden. Ich glaube daran, dass die Menschen begriffen haben und die Chance dazu nutzen werden. Unsere Gebete und Kerzen im Fenster werden helfen, dessen bin ich gewiss! Den Hinweis, dass Sie auf der Homepage täglich ihr Corona-Tagebuch führen, habe ich sofort genutzt. Ich war ganz angetan davon, wie liebevoll sie die Texte gestaltet haben. Jetzt können wir die Osterpredigten über den Computer verfolgen. Auch dafür ganz lieben Dank! Nun hoffen wird, dass recht bald wieder Normalität in unser Leben eintreten kann und Corona bald der Vergangenheit angehören wird. Dann dürfen wir uns auch wieder in unserer wunderschönen Kirche begegnen, und darauf freuen wir uns. Gott behüte Sie und uns alle! Auch wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein gesegnetes Osterfest! Mit herzlichen Grüßen …

Nacht-Gedanken am Montag, den 04.05.2020

Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen (Psalm 94, 9)?

… sie haben Augen und sehen nicht (Psalm 115, 5)

Öffne mir die Augen, dass ich sehe… (Psalm 119, 18)

Zu der Zeit werden … die Augen der Blinden

aus Dunkel und Finsternis sehen (Jesaja 29, 18)

Es gibt noch einen dritten “Seuchenroman” nach Pest und Cholera (Albert Camus: Die Pest und Gabriel García Márquez: Die Liebe im Zeichen der Cholera; siehe Nachtgedanken am 06.04.2020 und am 30.04.2020). Zehn Jahre nach Márquez Cholera-Roman erschien das Werk eines dritten Nobelpreisträgers nämlich “Die Stadt der Blinden” des portugiesischen Schriftstellers José Saramago. Ich lese dieses packende Buch gerade. Zu Beginn springt eine Ampel auf Grün. Ein Auto bleibt stehen und fährt nicht weiter. Wildes Gehupe. Es stellt sich heraus, dass der Fahrer ganz plötzlich erblindet ist. Ein Mann hilft und erblindet selbst. Eine Epidemie bricht aus. Eine ganze Stadt verliert die Sehkraft. José Saramago spielt mit der Ohnmacht. Der Ohnmacht der Betroffenen und der Regierung, die nicht weiß, wie sie handeln kann. Schließlich steckt sie alle Blinden in ein leer stehendes Irrenhaus, versorgt sie anfangs noch mit Lebensmitteln, wer zu fliehen versucht, wird erschossen. Die Machthaber ziehen sich zusehends zurück, überlassen die hilflosen Menschen sich selbst. Innerhalb der Anstalt herrschen Chaos und Barbarei. Gruppen bilden sich, kämpfen gegeneinander, um Essen, um Medizin, um Versorgung. Frauen verkaufen ihren Körper für Nahrung. Jeder versucht zu überleben und ist sich selbst der Nächste. Ein von Geburt an Blinder wird dagegen schon fast zum Sehenden, weil er seine restlichen Sinne geschärft hat und sich auf sie verlassen kann. Die durch die Epidemie plötzlich Erblindeten sind dagegen völlig hilflos. Mit diesem Szenario einer militärisch durchgesetzten Isolierung entfaltet Saramago eine apokalyptische Vision, der wir uns durch das Corona-Virus hoffentlich nie und nirgendwo auf der Welt annähern. Anzeichen davon gibt es allerdings auch bei uns, sei es durch den unsäglichen Satz des Tübinger Bürgermeisters oder durch ebenso unsägliche Corona-Parties vor allem zu Beginn oder durch die vielen Stimmen, die eine Wiederherstellung ihres bisherigen Konsumlebens herbeikrakeelen ohne Rücksicht auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Saramago stellt mit seiner Geschichte die Frage nach dem Kern der Menschheit, nach Gut und Böse und nach dem, was sich hinter der Fassade jedes Einzelnen verbirgt. Indem er ein schwarzes Bild der menschlichen Seele malt, mahnt er uns, unsere humanitären Werte nicht zu verlieren. Dabei malt er es so gut, dass der Roman trotzdem sehr berührt, weil sich auch unter lebensbedrohlicher Zwangsquarantäne Fürsorge, Zärtlichkeit und Liebe entwickeln können. Die Quintessenz steht ganz am Ende, als die meisten Erblindeten wieder sehen können. Ein Augenarzt, der selbst zu den Erblindeten gehörte, fragt sich selbst und seine Frau, die sich als einzig Sehende blind stellte, um ihren Mann zu begleiten, warum die ganze Stadt erblindet sei? “Das weiß ich nicht, vielleicht werden wir eines Tages den Grund dafür erfahren. Soll ich dir sagen, was ich denke? Ja, ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen.”

Nacht-Gedanken am Samstag, den 02.05.2020

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (2. Timotheus 1, 7)

Interessant im Internet zu lesen: Dass Frauen in der Coronakrise die Gesellschaft am Laufen halten, ist statistisch belegbar: Im Einzelhandel, in Kindergärten oder in Krankenhäusern stemmen Frauen mit über 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten den Löwenanteil. Der Erfolg gegen Corona ist aber noch auf einer anderen Ebene weiblich: Überall dort, wo Regierungschefinnen an der Spitze stehen – also in Ländern wie Deutschland, Neuseeland, Finnland, Dänemark, Island oder Taiwan – scheinen diese besser durch die Coronakrise zu kommen. Managen weibliche Regierungschefinnen die Corona-Pandemie tatsächlich besser? Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Claudia Wiesner von der Hochschule Fulda sagt: „Zufall ist das wohl nicht, auch wenn wir keine Empirie haben, wie etwa eine repräsentative Studie verschiedener Regierungschefinnen, auf deren Basis wir Kausalzusammenhänge herstellen können“ (die Wissenschaft nennt das „anekdotische Evidenz”). Der Erfolg mag durchaus mit dem Politikstil der ruhigen Hand zusammenhängen, den Politikerinnen bevorzugen, und für den sie auch gewählt wurden. Man kann es auch umdrehen: “Eine Frau, die so auftreten würde wie Donald Trump (USA) oder JairBolsonaro (Brasilien), käme als Karikatur herüber und würde gar nicht erst gewählt werden“, sagt die Wissenschaftlerin. „Gleichzeitig werden Männer teilweise genau wegen ihres Macho-Gehabes oder sexistischer Sprüche ins Amt gewählt“, so die Expertin. „In der Coronakrise scheinen die Eigenschaften, für die Frauen gewählt werden, besser zu funktionieren.” Weibliche Regierungschefinnen werden generell als fürsorglicher und mütterlicher wahrgenommen. Aber der Erfolg der Frauen lässt sich auch mit harten Fakten belegen: Die weiblichen Regierungschefs haben alle nachweisbar sehr viel schneller gehandelt und haben rigoroser zu starken Maßnahmen gegriffen.

Die These, dass Länder mit Frauen an der Spitze bessere Ergebnisse erzielen, wurde auch vorher schon beobachtet. Bereits bei der Finanzkrise 2008 legten Analysen nahe, dass Länder und Banken mit einem hohen weiblichen Führungsanteil besser durch die globale Wirtschaftskrise gekommen sind. Christine Lagarde, damalige Chefin des Internationalen Währungsfonds, sagte im „Wall Street Journal“: „Wenn Lehman Brothers Lehman Sisters gewesen wäre, sähe die heutige ökonomische Krise anders aus.“

Die Politikwissenschaftlerin weiter: „Aus der Unternehmensforschung wissen wir, dass Frauen in der Gesamtheit eher dialogisch führen.“ Sie ließen mehr Stimmen zu Wort kommen, bezögen mehr Faktoren in die Entscheidungsfindung mit ein und würden insgesamt vorsichtiger, umsichtiger und weniger mit machtverliebter Eitelkeit agieren. „Dadurch handeln sie eventuell überlegter und weniger mit spontanen Ausbrüchen”. „Bei Merkel sehen wir die Kombination aus Kompetenz, Nüchternheit und Zugewandheit. Genau das hilft beim Krisenmanagement.“

Allerdings: Wer nur das Geschlecht für den Erfolg verantwortlich macht, denkt zu eindimensional. Die Länder, die sich im Kampf gegen Corona als resilienter erweisen, haben zudem weitere Stärken, etwa ein gutes Gesundheitssystem und eine niedrige finanzielle Verwundbarkeit.

Also: Frauen an die Macht! Ich bin jedenfalls heilfroh, nicht von großspurigen Alpha-Männchen regiert zu werden, sondern, besonnen, unaufgeregt, ruhig, ja, manchmal fast ein wenig langweilig.

Nacht-Gedanken am Freitag, den 01.05.2020

Eines bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne:

dass ich im Hause des Herrn bleiben könne mein Leben lang,

z

Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit,

er birgt mich im Schutz seines Zeltes…

Harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn! (aus Psalm 27)

Bei einem Krankenabendmahl lange vor Corona-Zeiten im Krankenhaus mussten sich alle Beteiligten mit Mundschutz, Einweghandschuhen und -kitteln ausstatten, um daran teilnehmen zu können, weil sich die Kranke mit dem berüchtigten Krankenhauskeim infiziert hatte. Als ich mich selbst endlich ausstaffiert hatte und das Zimmer betrat, werd’ ich das Bild nie vergessen: Die ganze Großfamilie war dicht gedrängt versammelt, 20-30 Leute. Der Raum gestopft voll und alle verkleidet, so dass man die einzelnen Gesichter kaum erkennen konnte. In der Mitte aufrecht im Bett sitzend die schwerkranke Patientin – trotzdem putzmunter und glücklich im Kreis ihrer Lieben. “Schaun’s amol her, Herr Pfarrer, lauter G’spenster.” Wir haben alle gelacht.

Gestern, bei unserer ersten Pfarrkonferenz seit langem, musste ich an diese skurrile Situation denken. Wir saßen alle mit Mundschutz an Einzeltischen, sorgsam auf Abstand bedacht. Kein Händeschütteln, keine Umarmungen, kein Lachen – sieht man ja eh nicht hinter der Maske. Schwer verständliches Mundschutznuscheln. Thema der Konferenz: “Das örtliche Schutzkonzept für Gottesdienste in der Zeit der Corona-Pandemie” mit seinen Anforderungen. Sie werden unsere Gottesdienste jetzt wohl für lange Zeit prägen: Kaum – am besten gar kein – Gesang, isolierte und gekennzeichnete Plätze mit Platzanweisern, Sicherheitsabstand 2 Meter (morgen werden wir ausmessen und die Anzahl der Sitzplätze berechnen), versperrte Emporen, verpflichtender Mundschutz, begrenzte Teilnehmendenzahl, keine Chöre, markierte Wege usw. Jede Gemeinde muss für ihren Gottesdienstraum ein detailliertes Schutzkonzept ausarbeiten. Ich bin gespannt, wie wir das in Haag und Gesees in den nächsten Wochen entwickeln und umsetzen. Wir werden vorsichtig und Schritt für Schritt wieder anfangen und unsere Erfahrungen machen, aber noch nicht gleich am 10. Mai. Wann und wie und wo das passieren soll, dazu werden wir unsere beiden Gemeinden schriftlich informieren. Einerseits hätte ich gerne gesagt: Warten wir, bis es vorbei ist, und legen dann so richtig los. Andererseits kann das noch sehr lange dauern, bis wieder Normalität eintritt. Also können wir auch gleich starten, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Und nur weil wir wie Gespenster ausschauen, müssen unsere Gottesdienste ja keine gespenstischen Veranstaltungen sein – hoffentlich!

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 29.04.2020

Die Liebe hat Zeit.

Sie liebt mit langem Atem.

Sie ist freundlich.

Sie erzwingt nichts und nimmt den Geliebten, wie er ist.

Sie wird nicht bitter durch bittere Erfahrung.

Sie rechnet das Böse nicht zu.

Sie trauert über das Unrecht und freut sich über die Wahrheit.

Die Liebe trägt alles.

Die Liebe glaubt alles.

Die Liebe hofft alles.

Sie beugt sich der Last und bleibt geduldig gebeugt.

Unvergänglich ist die Liebe (aus 1. Korinther 13)

Ein wunderschöner Liebesroman ist das Buch “Die Liebe in Zeiten der Cholera” des großen kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez aus dem Jahr 1985, kurz nachdem er den Literaturnobelpreis bekommen hatte. Auf spanisch: “Elamor en los tiempos del cólera“ mit einem unübersetzbaren Wortspiel: cólera heißt nämlich auch Leidenschaft, Hitze, Wut und Wahn. Und genau darum geht es.

Zwei Männer bestimmen das Leben der FerminaDaza in einer kolumbianischen Küstenstadt an der Karibikküste (die Beschreibungen erinnern an Cartagena, wo Marquez bleibende Spuren hinterlassen hat): Florentino Ariza, ihre leidenschaftliche, wenn auch platonische Jugendliebe und der Mann, den sie schließlich heiratet: Dr. Juvenal Urbino. So gefühlvoll und schwärmerisch der eine, so rational und beherrscht der andere Mann, den sie schließlich heiratet. Als der hochangesehene Mäzen und Aristokrat Dr. Urbino beim Versuch, seinen Lieblingspapagei aus einem Mangobaum einzufangen, 81-jährig stirbt, ist der Weg frei für Florentino Ariza. 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage hat er darauf gewartet, um seiner Angebeteten aus Jugendtagen seine nie erloschene Liebe zu gestehen.

Kann Liebe eine Krankheit sein wie Cholera? Fragt Gabriel Garcia Márquez in diesem bildmächtigen, prallvollen und wortgewaltigen Roman, der einen mitreißt wie der fiktive Fluss, auf dem das Buch endet mit einem Liebespaar auf einem Dampfer, der nicht mehr an Land anlegen kann, weil Florentino die gelbe Choleraflagge hissen lässt, obwohl niemand erkrankt ist, und weil die beiden wissen, was sie an Land erwartet, „das Grauen des wirklichen Lebens“. Also beschließen sie, einfach für immer an Bord des durch die Cholerafahne exterritorialen, ja extemporalen Schiffes hin- und herzupendeln: „Der Kapitän sah FerminaDaza an und entdeckte auf ihren Wimpern das erste Glitzern winterlichen Reifs. Dann schaute er Florentino Ariza an, sah seine unbezwingbare Fertigkeit, seine unbeirrbare Liebe und erschrak bei dem späten Verdacht, dass nicht so sehr der Tod, vielmehr das Leben keine Grenzen kennt.“ Und als der Kapitän fragt, wie lange diese Hin- und Herfahrt dauern soll, antwortet Florentino Ariza, nachdem er sich weit über 50 Jahre darauf vorbereitet hat: “Das ganze Leben”. Die selbst gewählte Quarantäne wird zur Chance, etwas zu leben, das vorher nie möglich war: Eine tiefe, einzigartige Liebe, die jahrzehntelang durch gesellschaftliche Konventionen verhindert wurde. Und es eröffnet sich ein ungemein schöner Raum der Gefühle, der Zärtlichkeit und der Sexualität dieser beiden vom Leben und vom Alter gezeichneten Menschen. Mit diesem vollkommenen, endlos dahintreibenden Glück endet die Geschichte. Wer weiß, vielleicht kann es ja eines Tages auch einen Roman geben “Die Liebe in Zeiten von Corona”, weil in der Quarantäne eine neue Liebe gewachsen ist, unabhängig von Alter und Konvention – und wenn es nicht die Liebe ist, dann vielleicht die Lektüre. Ich bin gerade damit fertig geworden. Es lohnt sich auf jeden Fall, die (Corona-)Zeit für die schönen Dinge zu nutzen

Nachtgedanken am Mittwoch, den 29.04.2020

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde,

zum Bilde Gottes schuf er ihn (1. Mose 1, 27)

“Stellen sie sich vor, Ihre Freundin wird mit der Waffe bedroht. Sie sind ebenfalls bewaffnet und könnten den Angreifer erschießen. Andernfalls würde er Ihrer Freundin etwas Schreckliches antun. Wie entscheiden Sie?” So oder so ähnlich wurde ich 1982 bei meiner Gewissensprüfung im Rahmen meiner Kriegsdienstverweigerung gefragt. Ein ethisches Dilemma, aus dem man nicht ohne Schuld herauskommt. Damals sollte ich die Folgen für mein Gewissen möglichst glaubwürdig darlegen – hat ja dann auch geklappt. Ich wurde anerkannt. Trotzdem war es die schwerste Prüfung meines Lebens. Meine Nerven lagen blank, weil meine Verhandlung am selben Tag wie eine Abiturprüfung stattfand.

Ganz ähnliche Entscheidungen müssen in der Corona-Zeit Politiker treffen und sorgfältig abwägen, wenn verschiedene Rechte miteinander kollidieren, etwa das Recht auf Unversehrtheit des Lebens für alle Bürger – also auch für die Risiko-Gruppe der Alten und Vorerkrankten – mit anderen Freiheitsrechten.

Wenn Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als absoluten Wert nur eingeschränkt gelten lassen will, weil sich Grundrechte eben gegenseitig beschränken, dann leitet er in der Konsequenz auch nur eine relative Pflicht des Staates ab, Leben zu retten und zu schützen. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) treibt das mit seiner Kritik am weltweiten Lockdown der Wirtschaft auf die Spitze: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Ja, Herr Palmer, das war menschenverachtend und brutal und mit solchen Aussagen tragen sie zur Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte bei und nicht zur Befriedung, zum Ausgleich, zur Überzeugung (Inzwischen hat er seine Wortwahl etwas relativiert). Ich kenne genug junge Menschen mit Vorerkrankungen, für die die Umsetzung solcher Aussagen das Todesurteil bedeuten würden. Und auch meine Mutter mit ihren 82 Jahren hat trotz ihrer Erkrankung Freude am Leben und verfolgt auf ihrem Tablet, das wir ihr vor zwei Wochen geschenkt haben, meine Nachtgedanken und schreibt ihr ersten WhatsApps. Es steht uns nicht zu, über wertes und unwertes Leben zu urteilen (das hatten wir in unserem Land schon einmal).

Es gibt Extremsituationen, in denen Menschen nicht handeln können, ohne sich schuldig zu machen. Oberster Wert bleibt dennoch die physische Unversehrtheit des Lebens. Manchmal kollidiert allerdings die Rettungspflicht gegenüber den einen mit der Schutzpflicht für die anderen (in der Corona-Krise kann ich das aber noch lange nicht erkennen). Eine demokratische Gesellschaft muss an der absoluten Schutzpflicht für Menschen festhalten. Das schließt nicht aus, dass in Extremsituationen in Abwägung von Prinzip und Konsequenz Entscheidungen getroffen werden, die gegen die Prinzipien verstoßen. Dann müssen die Handelnden Verantwortung übernehmen, ohne auf Absolution spekulieren zu dürfen. Um es paradox zu formulieren: Wenn ein Verteidigungsminister fragt, ob er ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug im Extremfall abschießen darf, muss die Antwort der Öffentlichkeit „Nein“ lauten. Wenn er es trotzdem tut – und dafür einsteht -, muss er die Konsequenzen tragen, und womöglich zollen ihm viele Respekt.

Vor dieser Frage stand übrigens auch Dietrich Bonhoeffer. Er hat sie mit folgendem Bild für sich entschieden: “Wenn ein betrunkener Autofahrer in hoher Geschwindigkeit den Kurfürstendamm hinunterrast, dann ist es nicht die einzigste und wichtigste Aufgabe des Pfarrers, die Opfer des Wahnsinnigen zu beerdigen und die Verwandten zu trösten; wichtiger ist es, dem Betrunkenen das Steuerrad zu entreißen!” Bonhoeffer hat sich dem Widerstand gegen Hitler (“der betrunkene Autofahrer”) angeschlossen und die Konsequenzen getragen.

Die Würde des Menschen ist und bleibt unantastbar. Das gilt für Menschen jeden Alters. Der Schutz des Lebens ist und bleibt zu jeder Zeit ein absoluter Wert.

Nacht-Gedanken am Montag, den 27.04.2020

Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken,

das tut alles im Namen des Herrn Jesus

und dankt Gott, dem Vater, durch ihn (Kolosser 3, 17)

Mit großem Dank für Reaktionen, die mich sehr bewegt und berührt haben:

Hallo Ekki, ich möchte mich auf diesem Weg bei dir ganz recht herzlich für die digitale österliche Begleitung bedanken. Danke! Vergelt`s Gott! Ich glaube, ich habe die Osterzeit noch nie so intensiv erlebt, von Gründonnerstag bis Ostermontag – jeden Tag ein schöner, abwechslungsreicher kirchlicher Input. Das hätten wir bei unserem normalen Dasein nicht erlebt. Und dann auch noch in so großer Gemeinschaft von über 100 Mitleser*innen in Nah und Fern! Dass du digital nicht bewandert bist, hat man in keinster Weise gemerkt. „Wow habt ihr einen fitten digitalen Pfarrer“, hat mir eine Freundin rückgemeldet, der ich deine Botschaften weitergeleitet habe. Ich musste einfach immer nur an das Lied „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist“ denken. Das passt einfach wunderbar zu dieser Situation und gibt Kraft und Hoffnung. In diesem Sinne nochmals DANKE!

Hallo Ekki, ich habe soeben Deine Karfreitag-Predigt gelesen und mir war, wie wenn ich Dich von der Kanzel hören könnte. Unglaublich gut und treffend, drum muss ich Dir auch kurz schreiben und mitteilen. Ebenso verfolge ich Deine Nachtgedanken – genauso begeistert. Mach weiter so – Danke dafür. Deine 12 Punkte nach Bonhoeffer habe ich mit meinem Leben verglichen und bin ziemlich zufrieden bis auf – Politik und Musik – da muss ich noch an mir arbeiten. Ich werde diese Liste ausdrucken und aufhängen – damit ich es nicht vergesse. Ansonsten bin ich froh und stolz so einen Pfarrer wie Dich als Freund zu haben. Der Ostersonntag mit Deinem besonderen Gottesdienst zum Anbruch des Tages fehlt mir, da freu ich mich schon lange vorher drauf – es ist immer ein ganz besonderes Gefühl – Geborgenheit – Hoffnung – Freude. Aber, im Moment ist alles anders …

Ich wünsche Dir und Lissy und natürlich Euren Familien ein schönes gesegnetes Osterfest und bleibt schön gesund. Liebe Grüße … Frieden auf Erden

Lieber Herr Pfarrer de Fallois, da unsere Gottesdienste zurzeit noch ein Weilchen ausfallen, bin ich auf die Homepage „gegangen“ und freue mich seit gestern nach einer Wanderung durch unsere Fränkische gerührt und beruhigt zugleich über Ihre Predigten, Gedanken und vielen Anregungen zum Nach- und Nacht-Denken. Das geht übers Hirn in Herz und Seele.

Gut, dass es in solchen Situationen, die auf unbestimmte Zeit bestehen, doch auch die digitalen Möglichkeiten gibt, die ja auch die Älteren zunehmend nutzen können, schon ihrer Kinder und Enkel wegen, die oft in großer Distanz entfernt leben. Das machen Sie hervorragend. Haben Sie vielen, ganz herzlichen Dank. Schon freue ich mich auf die nächste digitale und insbesondere auch analoge Predigt. Schöne Ostern und gute, widerstandsfähige Gesundheit wünscht Ihnen Ihr …

Lieber Ekki! Ich wollte jetzt einfach mal DANKE sagen:

– dafür, dass die Kirche oben viel offen und mit passenden und sehr sorgsamen Dingen zum Innehalten und miteinander kommunizieren ausgestattet ist; sie lockt immer wieder an

– dafür, dass du so schöne, regelmäßige, passende Worte auf der Website schreibst; die Nachtgedanken gefallen mir!

– dafür, dass du nicht auch noch den x-ten Youtube-Kanal mit Gottesdienst eröffnest, sondern einfach die Predigt einstellst und die Oster-Highlights schlicht und schön von der Orgel zu hören sind

– dafür, dass ein persönlicher Brief mit Eindrücken zu dieser besonderen Zeit kommt. Das ist für mich alles superprima so, fühle mich aufgehoben! DANKE also und natürlich noch: FROHE OSTERN! Herzliche Grüße dir und deinen Lieben von …

Lied zum Nachtgedanken 28.04.2020:

Nachtgedanken am Dienstag, den 28.04.2020

Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.

Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich

(Jesaja 40, 6.8)

In diesen Tagen, in denen die Zahlen der Corona-Infektionen und der Todesopfer weltweit immer weiter steigen, musste ich an eines der eindrücklichsten Konzerte denken, das ich je erlebt habe, bei dem Studierende der Bayreuther Hochschule für Kirchenmusik (HKM) im November 2016 in unserer Kirche den eindrücklichen “Totentanz” von Hugo Distler aufgeführt und in Szene gesetzt haben. Dabei ruft der Tod nacheinander Bischof, König, Arzt, Kaufmann, Landsknecht, frommen Mann, Greis, Jungfrau und Kind in seinen Reigen. Vor der Sense des Schnitters ist niemand sicher, sie mäht und mäht. Unterbrochen wurde der “Totentanz” von einer fulminanten Orgelimprovisation einer Orgelstudentin über die alte Totentanz-Melodie “Es ist ein Schnitter, heißt der Tod”, bei der man fast den Wind über die zur Ernte reifen Getreidefelder rauschen hörte und die Sense des Schnitters und die niedersinkenden Halme vor Augen sah. Ich habe dabei Gänsehaut bekommen Es war unglaublich, was da unsere Geseeser Orgel an Geräuschen und Klängen und Lautmalereien zu bieten hatte.

Das alte Volkslied, der “Schnitter Tod”, stammt aus katholischem Umfeld aus der Zeit des 30-jährigen Krieges, als die Pest in Europa wütete, und wurde unter der Überschrift “Schnitterlied gesungen zueRegenspurg da ein hoch adelicheiungeBluemenohnversehen abgebrochen worden im Jenner 1637 gedrucket im iahr 1637″ erstmalig veröffentlicht. Durch die Aufnahme des Liedes in die umfangreiche Volksliedsammlung “Des Knaben Wunderhorn” der beiden romantischen Schriftsteller Clemens Brentano und Achim von Arnimund später in das Fahrtenliederbuch “Zupfgeigenhansl” der Wandervogelbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde das Lied weit verbreitet. Johann Wolfgang von Goethe bemerkte in einer Rezension zu Des Knaben Wunderhorn: “Katholisches Kirchen-Todeslied. Verdiente protestantisch zu seyn.“ Wie bei allen Volksliedern variiert die Länge des Textes in den verschiedenen Überlieferungen. Eine Fassung aus dem Jahr 1640 hatte z.B. 80 Strophen. Eine Fassung mit sechs Strophen hab ich einmal in unserer Kirche aufgenommen.

Das Lied beschreibt die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens anhand verschiedener Blumenarten und ihrem Wachstum, ihrem Blühen und Verwelken. Erst in der letzten Strophe wird dem gnadenlosen Schnitter Tod, dem großen Gleichmacher, die christliche Auferstehungshoffnung entgegengesetzt: Freu dich, schön’sBlümelein!

In Pandemiezeiten, in denen der Tod wütet, kann es tatsächlich jeden treffen, der sich angesteckt hat. Und trotzdem bin ich dankbar für unser Land mit weitsichtigen Politiker*innen und einem funktionierenden Gesundheitssystem. In den meisten Ländern sieht das ganz anders aus. Dort steht der Schnitter erst ganz am Anfang seines unheilvollen Wirkens.

1. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,

Hat G’walt vom großen Gott.

Heut wetzt er das Messer,

Es schneidt schon viel besser,

Bald wird er drein schneiden

Wir müssen’s wohl leiden.

Hüt dich schönsBlümelein!

2. Was heut noch grün und frisch da steht,

wird morgen schon hinweggemäht:

Die edlen Narzissen,

Die Zierden der Wiesen,

Die schön‘ Hyazinthen,

Die türkischen Binden.

Hüt dich schönsBlümelein!

3. Viel hundert tausend ungezählt,

Was nur unter die Sichel fällt:

Ihr Rosen, ihr Liljen,

Euch wird er austilgen

Auch die Kaiser-Kronen,

Wird er nicht verschonen.

Hüt dich schönsBlümelein!

4. Das himmelfarbe Ehrenpreis,

Die Tulipanen gelb und weiß,

Die silbernen Glocken,

Die goldenen Flocken,

Senkt alles zur Erden,

Was wird daraus werden?

Hüt dich schönsBlümelein!

5. Ihr hübsch Lavendel, Rosmarein,

Ihr vielfärbige Röselein,

Ihr stolze Schwertliljen,

Ihr krause Basiljen,

Ihr zarte Violen,

Man wird euch bald holen.

Hüt dich schönsBlümelein!

6. Trotz! Tod, komm her, ich fürcht dich nicht,

Trotz, eil daher in einem Schnitt.

Werd ich nur verletzet,

So werd ich versetzet

In den himmlischen Garten,

Auf den alle wir warten.

Freu dich schönsBlümelein.

Statt Nachtgedanken: Predigt 26.04.2020 über 1. Petrus 2, 21b-25 Misericordias Domini

Nacht-Gedanken am Samstag, den 25.04.2020

Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit, der du mich tröstest in Angst; sei mir gnädig und erhöre mein Gebet! (Psalm 4, 2)

Was Kirchenbesucher aufgeschrieben haben:

Ich denke in meinem Gebet besonders …

… an meine hochschwangere Freundin, deren Mann einen Hirntumor hat, die Kraft fehlt für ihren großen Sohn. Herr, schenke Kraft und Zuversicht!

… an die Kinder, die nicht so behütet aufwachsen dürfen (“schwierige” Familien), denen die soziale Betreuung fehlt.

… an die Menschen in den Flüchtlingslagern.

… an alle, die alleine sind.

… an die Menschen, die für die Kranken da sind, an alle Helfenden und Personen, die ihre Zeit in den Nächstenliebe-Dienst stellen.

… an die Kinder in Familien, die Probleme haben, weil die Betreuungen jetzt fern sind.

Ostern ist/bedeutet für mich …

… Das Herz öffnen und das Leben feiern!

… Vergebung.

… Ein Fest mit der Familie.

… Auferstehung.

… Unglaublich, ein Traum wird wahr.

… Lauter Liebe.

… Alles Tödliche hat keine Macht.

… Auferstehung Jesu.

… Aufbruch zu neuem Leben!

… Erwachen.

… Vor uns liegt immer das Leben.

… Freude, Tanz, Lebendigkeit, Liebe.

… Familie.

… Die Freude darüber, dass wir mit unserer Schuld und Unzulänglichkeit nicht alleine gelassen sind, weil Jesus auferstanden ist und wir mit ihm.

… Neues Leben.

… Hoffnung.

… Es geht im Leben nie bergab, sondern immer nur Gottes ausgebreiteten Armen entgegen.

… Jesus ist Sieger.

Nachtgedanken am Freitag, den 24.04.2020

Jesus Christus spricht: Ich lebe, und ihr sollt auch leben (Johannes 14, 19)

Ein Artikel aus den Nürnberger Nachrichten, in dem die Theologin und Professorin für christliche Publizistik, Johanna Haberer, die ich einmal als Referentin im Predigerseminar erlebt und sehr schätzen gelernt habe, ihre Gedanken zu Hilfsbereitschaft, Nachbarschaft und Solidarität in der Coronakrise schildert – mir hat er gut gefallen:

„In unserer Wohngemeinschaft haben wir zu singen begonnen. Vierstimmig. Wir haben ja Zeit zum Üben. Am Liebsten singen wir „Die Gedanken sind frei“. Da heißt es im 3. Vers:

Und sperrt man mich ein

Im finsteren Kerker,

Das alles sind rein

Vergebliche Werke;

Denn meine Gedanken

Zerreißen die Schranken

Und Mauern entzwei:

Die Gedanken sind frei!

Und wie viele ungezählte gute Gedanken da in den letzten Quarantänewochen freigelassen wurden, grenzt an ein Wunder. Wir denken aneinander und vermissen uns schmerzhaft, wir telefonieren wieder stundenlang, statt Küsschen und Herzchen per WhatsApp zu verschicken, wir lesen auf Zoom Bilderbücher vor, wir streamen Opernaufführungen und wir bilden klingende Gebetsketten für die kranken Nachbarn. Und wenn man bei Youtube Ostergottesdienste 2020 eingibt, hat man fast 100.000 Treffer. Es ist, als hätten wir in den Tagen der Quarantäne Netzwerke und Gaben sichtbar werden lassen, die vom Getöse des Alltags überlagert waren. Wichtig und unwichtig trennen sich wie von selbst und wir ahnen wieder, was die Kraft der Gedanken und die Phantasie der Liebe zu verändern im Stande ist.

Nein. Es macht nichts, dass wir Ostern nicht mit der ganzen Familie feiern konnten, umso bewusster haben wir die Fehlenden vermisst und umso dankbarer werden wir sein, wenn wir sie wieder umarmen dürfen. Nein. Es macht nichts, dass wir in den Kirchen am Ostermorgen nicht kräftig „Christ ist erstanden“ schmettern durften. Wir haben gespürt, was uns fehlt. Eine schmerzhafte Lücke ist entstanden, auch für die, die niemals in einen Gottesdienst gehen. Wir haben von ferne die Trompeten vom Friedhof gehört und wir haben auf das Geläut von der Kirche her gelauscht. Und vielleicht haben wir etwas von der geistigen Kraft der ersten Christen geahnt, die diese Verbundenheit im Kopf und im Herzen den Heiligen Geist genannt haben. Sie haben ein unsichtbares geistiges Netzwerk über die ganze Welt gelegt, in dem sie füreinander gebetet haben. Aber nicht nur füreinander. Sie haben auch für ihre Gegner gebetet und für den Frieden in der Welt.

Die Coronakrise ist Gelegenheit diese geistigen Netzwerke wieder zu aktivieren. Diese Verbundenheit im Kopf, die können wir stark machen und wir können uns gleich noch verabreden: Nächstes Jahr an Ostern, da werden wir gemeinsam für alle, die uns getragen haben und für alle, die gelitten haben und für alle, die wir verloren haben ‘Christ ist erstanden‘ singen.“

Nachtgedanken am Donnerstag, den 23.04.2020

Und der Herr sprach zu Abraham: Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein;

und in dir sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden (aus 1. Mose 12, 1-3)

Nun sind auch sie davon betroffen. Wir Christen kennen das schon: Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern: Sämtliche Gottesdienste der “Heiligen Woche” abgesagt. Viele Kirchen zwar geöffnet, aber ohne das Gemeinschaftserlebnis eines Gottesdienstes oder der Feier des Heiligen Abendmahls. Für unsere jüdischen Freunde galt das gleiche: Kein siebentägiges Passah-Fest vom 9.-16. April in den Synagogen, das mit seinen besonderen (Speise-) Ritualen vor allem als Familienfest gefeiert wird in Erinnerung an die Befreiung des Volkes Israels durch Gott aus der Sklaverei und den Auszug aus Ägypten.

Jetzt stehen die Muslime vor der gleichen Herausforderung durch die Corona-Pandemie: Vom Abend des 23. Aprils bis zum 23. Mai dauert der Ramadan, der heilige Fastenmonat im Islam. In dieser Zeit soll – der Überlieferung nach – dem Prophet Mohammed die Heilige Schrift der Muslime, der Koran, offenbart worden sein. In diesen vier Wochen verzichten fromme Muslime vom Anbruch des Tages bis zum Sonnenuntergang auf Essen, Trinken, Rauchen und Sex. Der Ramadan endet mit dem Fest des Fastenbrechens. Auf Arabisch heißt es Id al-Fitr. Viele Türken nennen es auch Zuckerfest. Im Ramadan gehört neben dem Besuch der Moschee und dem Gebet mit dem Imam traditionell vor allem das gemeinsame Fastenbrechen nach Sonnenuntergang im Familien- und Freundeskreis dazu. Laut Koran darf man sich solange stärken, bis man in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden kann.

Zum Schutz vor einer weiteren Ausbreitung des gefährlichen Virus riefen die Imame ihre Gläubigen jetzt dazu auf, sich an die Vorgaben der Bundesregierung und Gesundheitsämter zu halten und sich nicht gemeinsam zum Gebet oder zum Fastenbrechen zu treffen. Die Moscheen in Deutschland bleiben also weiterhin geschlossen. Selbst in Mekka wird jede Moschee geschlossen sein. Unter Muslimen umstritten ist die Frage, ob es digitale Angebote geben soll. Für die einen gilt, dass man sich zu einem „gültigen“ Gebet nur hinter einem Imam versammeln kann. Andere wollen es trotzdem versuchen und die Gebete über Internetplattformen ausstrahlen, so dass Muslime von zu Hause aus mitbeten könnten. Statt des gemeinschaftlichen Fastenbrechens bieten manche Moscheegemeinden ein “Iftartogo” an, also einen Lieferservice für Speisen und Getränke nach Sonnenuntergang.

Aber weder digitale Gottesdienste noch stille Gebete allein zu Hause können an den hohen Feiertagen das spirituelle Erlebnis in der Gemeinschaft in den unterschiedlichen Gotteshäusern ersetzen. Das ist uns Christen und unseren jüdischen Freunden an den hohen Feiertagen schmerzhaft bewusst geworden. Muslimen wird es jetzt im Ramadan ähnlich ergehen. Aber es ist gut, wenn wir wahrnehmen, dass uns etwas fehlt. Wir werden es im nächsten Jahr in den unterschiedlichen Religionen umso bewusster und intensiver feiern. Es gilt eben auch für Pandemie-Zeiten und ohne Gotteshausbesuch: Religionen geben Kraft und Halt. Sie führen durch schwere Zeiten hindurch und lassen den Glauben wachsen – so unterschiedlich sie sind.

Übrigens feiern auch unsere jesidischen Freunde in dieser Zeit ein religiöses Fest als Familienfest, nämlich Serisal, ein religiöses Neujahrsfest, und zwar am Mittwoch nach dem 14. April, dem „Roten Mittwoch“ (ÇarsemaSor). Bei diesem Fest spielen wie bei unserem Osterfest gefärbte Eier eine symbolische Rolle, die versteckt und von den Kindern gesucht werden. Unser erster Flüchtling im Kirchenasyl Khairi hatte große Freude daran. Es war wie ein Stück Heimat in der Fremde.

Nachtgedanken am Dienstag, den 21.04.2020

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,

so werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll Lachens

und unsre Zunge voll Rühmens sein (Psalm 126, 1-2)

Ein paar Rückmeldungen auf die Kinderlieder und Videosper WhatsApp:

– Unser neues Lieblingslied… Der Popel, danke für die tolle Kinderaufmunterung.

– Beim Spazierengehen sehen wir nun lauter kibdrz (dumme Autokorrektur; vielleicht Kinder?) mit Finger in den Nasen. Super Lied, hat auf jeden Fall den Kindern ein Lachen auf die Lippen gezaubert.

– Das Lied vom Popel ist echt lustig, mega, Der Papa hat jetzt auch ein Lieblingslied.

– Popellied läuft bei uns in Dauerschleife.

– Meine wollen es heute 19.00 Uhr anstelle von “der Mond ist aufgegangen” singen

– Schön, dass es die Gruppe gibt. Ihr macht das toll! Liebe Grüße an Pfarrer Ekki von der .. Sie liebt die Lieder und singt dabei eifrig mit. Echt ein großes Lob an euch. Bleibt gesund!

– Auch von uns ein großes Dankeschön für das Engagement. Hoffentlich kann bald alles wieder seinen geregelten Gang gehen. Bleibt gesund und viele Grüße von …

– Vielen Dank für alle Geschichten und Lieder…

– Ich muss auch mal danke sagen für die tollen Beiträge, Geschichten, Lieder über die Ostertage. Einfach toll. Auch die Beiträge von Pfarrer Ekki einfach toll und haben es echt mit großer Freude immer angehört. Ein großes Danke an euch.

– Ja, dem kann ich mich anschließen, ich finde es toll, was unser Pfarrer da ins Leben gerufen hat. Bleibt jetzt nur die Frage: Hat es auch nach Corona Bestand? Wie wird unser Leben aussehen? Ich finde es gut, dass auch die Jüngsten an den Glauben herangeführt werden, mit Liebe und Verständnis, daher. Bleibt dabei! Leider ist es trotz Lockerung noch nicht vorbei, daher: Bleibt gesund!

Kommentar von Pfarrer Ekki: Dankedankedankedanke! Nur dass es keine Missverständnisse gibt – das Popellied, naja, das war mal kurz zwischendrin zum Aufmuntern. Sonst sing ich natürlich selbstverständlich immer nur ganz und gar ernste und anständige Lieder 😉 Ich freu mich jedenfalls wieder auf “analoge” Zeiten und lad schon mal alle Familien mit ihren Kindern zur MiniKinderKirche am 28. Juni, 11.15 Uhr in die Geseeser Kirche ein, wenn es bis dahin möglich ist zusammenzukommen!

Nachtgedanken am Dienstag, den 21.04.2020

Gedenke der vorigen Zeiten (5. Mose 32, 7)

Gestern (20.04.1970) vor 50 Jahren starb Paul Celan, einer der größten Lyriker Deutschlands, vermutlich durch Suizid auf Grund einer fortschreitenden psychischen Erkrankung, indem er sich in Paris in die Seine stürzte und ertrank. Paul Celan, eigentlich Paul Antschel, stammte wie die Lyrikerin Rose Ausländer aus Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina (“Buchenland”, wie es die Nazis nannten). Auf unserem Weg durch die Ukraine sind wir im letzten Sommer durch die prächtige österreichisch-ungarisch geprägte Altstadt gelaufen mit ihrer reichen literarischen jüdischen Vergangenheit (für mich selber hab ich die wunderbaren Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger entdeckt, die gerade mal 18-jährig in einem Zwangsarbeitslager der Nazis in Transnistrien – heute Moldawien – starb) und ihrem riesigen verwilderten jüdischen Friedhof mit mehr als 50.000 Gräbern, haben das Denkmal für Rose Ausländer entdeckt und haben direkt gegenüber vom Paul-Celan-Literaturzentrum gewohnt. Ich wollte in diesem Sommer gerne wieder nach Czernowitz fahren, aber das Corona-Virus wird das wohl verhindern. Paul Celan hatte mit viel Glück den Holocaust nach Jahren in Zwangsarbeitslagern überlebt, dabei aber seine Eltern verloren. Unter diesem Trauma hat er ein Leben lang gelitten. Es hat ihn zum Außenseiter in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gemacht. In einem einzigen Gedicht hat Paul Celan den ganzen Holocaust verarbeitet, in seiner berühmten “Todesfuge” – Pflichtlektüre in der Oberstufe. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich seine Stimme beim Rezitieren höre, in: www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66. Einer hat es mal “das bitterste, radikalste Deutschlandlied, das je geschrieben wurde”, genannt. Und was für ein Zufall: In seinem Gedichtband “Mohn und Gedächtnis” sind mehrere Gedichte an Ingeborg Bachmann gerichtet, zu der er über längere Zeit ein Liebesverhältnis unterhielt. Eines davon heißt:

Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.

Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:

die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,

im Traum wird geschlafen,

der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:

wir sehen uns an,

wir sagen uns Dunkles,

wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,

wir schlafen wie Wein in den Muscheln,

wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:

es ist Zeit, daß man weiß!

Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,

daß der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Nachtgedanken am Montag, den 20.04.2020

Eines bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: dass ich im Hause des Herrn bleiben könne mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn (Psalm 27, 4)

Ich kann das Gejammere nicht mehr hören, als würde die Welt untergehen: Die Religionsfreiheit ist bedroht! Es dürfen keine öffentlichen Gottesdienste gehalten werden! Wir haben ein Recht auf Gottesdienst! Und wenn kleine Läden jetzt wieder aufmachen dürfen, dann muss das doch auch für die Kirchen gelten!

Wenn man bei Youtube Ostergottesdienste 2020 eingibt, erhält man 126.000 Treffer. Selbst meine Tochter Viktoria hat sich in der Berliner Stadtmission schon unter die Youtuber gemischt und einen Gottesdienst ins Netz gestellt (https://youtu.be/QK7N7EaUloU, allerdings schon am Palmsonntag). In allen Medien werden Gottesdienste übertragen. Zu unserer Whatsapp-Gruppe mit Kinderliedern, kleinen Videos und Gebeten gehören inzwischen etwa 100 Familien, die die Aufnahmen selber auch wieder weitersenden. Unsere Kirche ist geöffnet. Jeder kann kommen und Andacht halten. Zur Gottesdienstzeit läuten die Glocken. Und auch in der Osternacht erklang das volle Geläut. Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass die Religionsfreiheit bedroht ist.

Wikipedia definiert: “Die Religionsfreiheit ist ein Grund- und Menschenrecht, welches jedem Menschen erlaubt, die persönliche individuelle Glaubensüberzeugung in Form einer Religion oder Weltanschauung frei und öffentlich auszuüben … Dies umfasst neben der Angehörigkeit zu einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft auch die kultische Handlung entsprechend ihrer Lehre sowie ihrer aktiven Verbreitung. Insbesondere umfasst sie auch das Recht, keiner Religion anzugehören … Wie jedes andere Grundrecht auch, kann die Religionsfreiheit mit anderen Grundrechten kollidieren („Normkollision“)”.

In dieser Corona-Ausnahmezeit sind auch andere Grundrechte stark eingeschränkt: Das Grundrecht der Freizügigkeit, das Persönlichkeitsrecht, die Handlungsfreiheit, die Berufsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Reisefreiheit. Und warum? Doch nur weil das “Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” durch das Corona-Virus massiv bedroht ist, für das es noch keinen Impfstoff gibt. Solange nicht gewährleistet ist, dass auch die Schwächsten unserer Gesellschaft – alte Menschen, Menschen mit Atemwegserkrankungen, Menschen mit Vorerkrankungen, und das betrifft Junge wie Alte – geschützt werden können, bzw. ebenfalls über die gleichen Rechte wie alle anderen verfügen können, solange muss man doch gerade von den christlichen Kirchen ein Zeichen der Solidarität mit diesen Schwächsten erwarten!

Unsere Gottesdienste besuchen nun einmal viele ältere Menschen und damit Angehörige der Risikogruppe. Für mich wäre das der schlimmste Fall, wenn sich auch nur ein Besucher im Gottesdienst ansteckt und daran stirbt, so wie es bei einem Chor in Amerika passiert ist, bei dem sich drei Viertel der Sänger*innen infiziert haben und mehrere gestorben sind. Ich hatte auch schon bei unserem letzten öffentlichen Gottesdienst am 15. März große Bedenken. Der Schutz von Menschenleben hat Vorrang! Ich finde: Es steht unserer Kirche gut an, wenn sie nicht in den gierigen Schrei der angeblich zu kurz Gekommenen einstimmt, sondern sich in Geduld übt und ein Zeichen der Nächstenliebe setzt und Rücksicht nimmt auf die besonders zu Schützenden.

Es ist ein gutes und wichtiges Gefühl, dass uns etwas fehlt, dass wir etwas vermissen. Umso größer wird die Freude sein, wenn es wieder möglich sein wird, Gottesdienste für alle und mit allen zu feiern. Umso lauter und kräftiger können wir dann alle gemeinsam das “Christ ist erstanden” in der Osternacht 2021 schmettern!

Predigt über Jesaja 40, 26-31  Quasimodogeniti  19.04.2020

Nachtgedanken am Samstag, den 18.04.2020

            Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

            Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

            Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Manchmal versteh’ ich die Welt nicht mehr und bin froh, in Deutschland zu leben. Dann lieber Klopapier. Den Engpass haben wir selbst bis zum letzten Blatt zu spüren bekommen. Maik hat uns gerettet und welches aus Potsdam mitgebracht – Glück gehabt. Dort waren die Regale noch nicht Klopapierfrei. Aber inzwischen hat sich die Lage entspannt und man bekommt sogar in den Bäckereien Klopapierrollen – allerdings zweckentfremdet und besser zum Verzehr geeignet.

Nachtgedanken am Freitag, 17.04.2020

Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?

Er ist nicht hier, er ist auferstanden (Lukas 24, 5-6)

Ab wann ist eigentlich Ostern, so hab ich am Ostermontag gefragt und vor allem vom großen österlichen Lobgesang, dem Exsultet erzählt. Ich hab dabei allerdings einen musikalischen Höhepunkt der Osternacht unterschlagen, bei dem ich jedes Jahr Gänsehaut bekomme, wenn nämlich Posaunenchor und Orgel im Wechsel die großartige Fanfare von Walther Haffner zum ältesten deutschsprachigen Kirchenlied “Christ ist erstanden” (EG 99) anstimmen mit ihren Dissonanzen und schrägen Tönen und vielstimmigen Clustern, die in einem gewaltigen harmonischen Schlussakkord enden, bevor der eigentliche kraftvolle Choral beginnt (Marko Zdralek hat dieses Vorspiel und den Choral am Sonntag über meine Osterpredigt gesetzt). Da jagt es mir regelmäßig Schauer über den Rücken. Martin Luther hat zu der Grundmelodie einen 7-strophigen Choral “Christ lag in Todesbanden” (EG 101) komponiert. Dabei war Luther kein ausgesprochen österlicher Theologe, auch wenn er sich das Ostergeschehen in Jerusalem und auch seine eigene Auferstehung sicher ganz real und konkret und körperlich vorgestellt hatte. Für ihn stand der Karfreitag mit dem Kreuz Jesu im Zentrum seiner Kreuzes-Theologie, weniger Ostern mit dem leeren Grab und dem auferstandenen Christus. In dem gekreuzigten Christus liegt die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes. Diese Meinung vertrat er im Jahr 1518 bei einer Disputation in Heidelberg, ein Jahr nach seinem reformatorischen Durchbruch. Die Wertschätzung des Karfreitags gegenüber Ostern zieht sich durch viele seiner Schriften und beeinflusste natürlich auch die lutherische Frömmigkeit. Für manche sogenannte “Karfreitagschristen” ist dieser Tag bis heute der höchste protestantische Feiertag. Man kennt ja z.B. auch Johann Sebastian Bachs Johannes- und Matthäus-Passion mit ihrer ergreifenden Musik, aber sein Oster-Oratorium wird nur selten aufgeführt, das auf die liturgische Darstellung des Osterlaufes und des Osterlachens zurückgreift, so wie man es aus dem Mittelalter kannte.

Im Zentrum der lutherischen Rechtfertigungslehre stand nun mal das Kreuz und nicht das leere Grab. Am Kreuz sind Heil und Erlösung ganz und gar vollbracht. Von einer ansteckenden Fröhlichkeit des Osterfestes und einer fröhlichen Glaubenspraxis und Lebensführung hören wir deshalb nur wenig. Das passt auch ein wenig zu vielen wunderbaren Karfreitagspredigten, die mit den tiefsten Worten unsere Karfreitagswelt beschreiben – da kennen wir uns schließlich aus -, aber in den Osterpredigten dann seltsam dürr und blutleer daherkommen.

Da ist dann kaum etwas zu hören von der Aufschrift auf dem schönen Epitaph der Familie von Heerdegen vom Culmberg mit seinem Auferstehungsbild auf der Rückseite des Altars in unserer Kirche St. Marien zum Gesees(22. Bild bei: https://www.markgrafenkirchen.de/markgrafenkirchen/pfarrkiche-st-marien-zum-gesees-gesees/#/):

Nach Christi Gepurt 1539 jar verschied in Gott der Edel und Ehrenvest Nicolaus Heerdegen uffmKulmperg, dieser zeytAmt- mann zu Streitperg. Nach In Anno 1556 verschied in Gott sein christliche hausfrau die Edle und Tugendhaft FrawGeporne von Kotzaw. Gott verleihe Inen Ein Fröhliche Auferstehung. AMEN.

Bei so viel Edelmut und Tugendhaftigkeit, kann man sich diesem Wunsch nur anschließen! Sicher haben die Angehörigen im 16. Jahrhundert auch getrauert, aber die Perspektive war anders: Man freute sich mitten im Leben auf eine kommende Auferstehung, und die war durch und durch fröhlich. Die Menschen lebten mit Gottes Ewigkeit. Diese Gelassenheit und Zuversicht, diese Grundfröhlichkeit und Vorfreude wünsch’ ich uns allen in Corona-Zeiten!

Nacht-Gedanken am Donnerstag, den 16.04.2020

Und du wirst sein eine schöne Krone in der Hand des Herrn (Jesaja 62, 3)

Die kreative Multi-Künstlerin, von der ich gestern geschrieben habe, war nicht die einzige mit Namen Corona. Letztlich kann der Name wie so oft auf eine Märtyrerin des 2. Jahrhunderts zurückgeführt werden, auf die Heilige Corona, Sankt Corona. Je weniger man aus dem realen Leben dieser frühchristlichen Glaubenszeugen wusste, umso mehr Legenden konnten sich um sie herum lagern, was wiederum dazu führte, dass diese in der katholischen Kirche als Heilige verehrten Vorbilder im Glauben in einer seltsamen Mischung aus Aberglauben, gläubigem Vertrauen und vager Hoffnung auf Hilfe in den unterschiedlichsten Situationen angerufen werden konnten und für die unterschiedlichsten Bereiche zuständig waren. Corona galt als Schutzpatronin der Schatzgräber, Lottospieler und Geldanleger (in Österreich wurde die frühere Münzwährung “Krone” nach ihr benannt), der Metzger, der von Zahnschmerzen geplagten, von Menschen mit Glaubenszweifeln und Dämonenängsten, aber auch der Bauern gegen existenzgefährdende Viehseuchen und Hagelschauer und von Seuchen bedrohter Landschaften und Völker. Keine Ahnung, warum und wie das alles zusammenpasst.

Corona, die “Gekrönte” (im griechischen Sprachraum “Stephana”) trat nach einer alten Legende am 14. Mai 177 als 16-Jährige in die Öffentlichkeit, als sie einem zum Christentum konvertierten Soldaten namens Viktor – vielleicht ihr Ehemann, vielleicht die Braut eines Kameraden – beigestanden haben soll, als der wegen seines Glaubens gefoltert wurde. Das Bekenntnis zu Christus war lebensgefährlich. Sie wurde daraufhin selbst inhaftiert und auf schreckliche Art umgebracht: Man band sie mit starken Seilen zwischen zwei zu Boden gedrückte Palmen, die man dann nach oben schnellen ließ. Ihr Körper wurde augenblicklich zerrissen. Der Corona-Kult verbreitete sich dann schnell im Abendland. Ihre angeblichen Reliquien wurden nach Aachen und Prag gebracht. Seit dem 14. Jahrhundert wurde sie besonders in Österreich und Bayern mit eigenen Corona-Wallfahrten verehrt. Südlich von München gibt es eine versteckte Kapelle mit einer Inschrift in holprigen Versen: “Müder Wanderer, stehe still, mach bei St. Corona Rast. Dich im Gebet ihr fromm empfiehl, wenn du manch Kummer und Sorgen hast.” Ein spezielles „Corona-Gebet” würde durch seine magische Kraft angeblich sogar zu verborgenen Schätzen führen. Naja.

In diesem Sinn ist Corona, die Gekrönte, tatsächlich ein schöner Name.

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 15.04.2020

 Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein (Jesaja 43, 1)

Corona – eigentlich ein schöner Name, viel zu schön für eine schreckliche Krankheit, die die ganze Welt lahm legt und schon jetzt 125.000 Menschenleben gekostet hat, viel zu schade für eine mexikanische Biersorte, viel zu lieblich für einen rauhen und völlig kahlen Vulkankegel im Norden der Insel Lanzarote. Wer weiß, ob dieser Name nicht im Jahr 2020 eine Renaissance erfährt in Erinnerung an schöne Coronazeiten, als plötzlich so viel Zeit zu zweit vorhanden war und man gar nicht mehr immer und überall unterwegs sein durfte, aber wer nennt sein Kind schon nach einer Krankheit? Es gibt aber Alternativen, und ich meine jetzt nicht das Bier oder den Vulkan. Nein, als Namensgeberin könnte man sich z.B. auf Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter berufen, und die war immerhin Sängerin, Schauspielerin und sogar eine von nur sehr wenigen Komponistinnen ihrer Zeit. Geboren 1751 in Guben an der heutigen polnischen Grenze in Brandenburg zog ihre Familie bald nach Leipzig. Corona ließ sich zur Sängerin ausbilden und lernte dort Johann Wolfgang von Goethe kennen, der von ihr sehr beeindruckt war und sie 1776 auf seinen Vorschlag hin als Hofvokalistin und Kammersängerin nach Weimar verpflichtete. Durch ihre schauspielerische Begabung wurde sie bald der Mittelpunkt von Goethes Liebhabertheater auf Schloss Kochberg, das zum Landsitz von Goethes Freundin Charlotte von Stein gehörte. Dort war sie unter anderem die allererste Darstellerin der Iphigenie. In Weimar besuchte sie auch die von Goethe geförderte Fürstliche freie Zeichenschule. Bei der Uraufführung von Goethes Singspiel “Die Fischerin” komponierte sie die Musik und spielte zugleich die Hauptrolle. Außerdem vertonte sie als erste 1782 Goethes Erlkönig. Der Dichterfürst setzte ihr in seiner Elegie “Auf Miedings Tod” ein kleines Denkmal:

Ihr kennt sie wohl; sie ist‘s, die stets gefällt:

Als eine Blume zeigt sie sich der Welt,

Zum Muster wuchs das schöne Bild empor,

Vollendet nun, sie ist‘s und stellt sich vor.

Es gönnten ihr die Musen jede Gunst.

Und die Natur erschuf in ihr die Kunst.

So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,

Und selbst dein Name ziert, Corona, dich.

Die Allround-Künstlerin Corona Schröter starb 1802 im thüringischen Ilmenau an Tuberkulose. So gesehen ist Corona tatsächlich ein schön-schillernder Name. Wie wär’s?

Nacht-Gedanken am Dienstag, den 14.04.2020

Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen … auf deine große Barmherzigkeit
(Daniel 9, 18)

Was Kirchenbesucher aufgeschrieben haben:

Ich denke in meinem Gebet besonders an …

… an die vielen Menschen in den Pflegeheimen, weil sie jetzt völlig isoliert ohne Kontakt, allein auf ihren Zimmern

… an die vielen Pflegenden, Ärzt*Innen, Menschen in Verkauf/Logistik, weil sie so oft bis zur Erschöpfung arbeiten müssen.

… an meinen Papa, der heute Geburtstag hat und im Seniorenheim lebt und keinen Besuch empfangen darf, was er gar nicht versteht und worüber er ganz verzweifelt ist.

… an die Menschen, die für die Kranken da sind, an alle Helfenden und Personen, die ihre Zeit in den Dienst der Nächstenliebe stellen.

… an die Menschen in Italien und Spanien und New York, weil es dort sooo viele Tote gibt.

… an die Schwester meiner besten Freundin, die mit Hirnbluten im Krankenhaus liegt und die Kinder und ihr Papa keine Unterstützung, keine Besuche bekommen dürfen.

… an die Menschen, die jetzt von Arbeitslosigkeit bedroht oder schon entlassen sind, weil sie oft nicht wissen, wie’s weitergehen soll.

… an all die Mütter, die neben Job und Homeoffice noch für Kinder und Haushalt da sind. Haltet durch!

… an die Pflegekräfte in den Seniorenheimen, weil sie unersetzbar sind und den einzig möglichen Kontakt darstellen zu unseren Eltern und Großeltern.

… an meine Familie und meine Freunde, weil ich hoffe, dass alle gesund sind und wir bald wieder gemeinsam Zeit verbringen können.

Und zum Karfreitags-Impuls: Gott, …

… ich habe Angst, dass viele Menschen diese Situation nicht aushalten können.

… ich befürchte, dass ich meine Familie und meine Freunde lange Zeit nicht mehr sehen kann.

… ich bitte darum, dass wir Menschen durch das Wiederzusammenrücken in den Familien die Nähe des anderen gut ertragen können.

… ich bitte: Sei allen ganz nahe, die jetzt in Flüchtlingslagern ausharren müssen.

… ich bitte: Sei bei denen, die zur Zeit alleine sind und nicht zu Familie und Freunden dürfen.

… ich habe Angst, dass wir zu unfreien, steuerbaren und gläsernen Menschen werden. Erhalte uns unsere (Meinungs-)Freiheit und die Gabe, gegen den Strom zu schwimmen

… ich befürchte, dass es noch sehr lange dauern wird, bis wir unseren gewohnten Lebensstil wieder aufnehmen können. Aber gib uns dabei die Chance zur Umkehr, dass wir nicht mehr so weitermachen wie bisher, sondern auf Klima und Umwelt achten, auf Menschlichkeit und Solidarität, auf gerechte Löhne und insgesamt auf ein ruhigeres Leben.

Exsultet

Nachtgedanken am Ostermontag, 13.04.2020

Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere,

frohlocket, ihr Wunderwerke Gottes,

hell töne, Posaune des Heiles,

und preise den Sieg des ewigen Königs.

(aus dem “Exsultet”, dem großen Osterlob zu Beginn der Osternacht)

Wann ist Ostern, ja, ab wann? Für mich gibt es mehrere Schritte: Zuerst hole ich das frische Quellwasser aus dem Brunnenhäuschen, lebendiges Wasser zur Tauferinnerung, oft noch im Schlafanzug, dann der Weg entlang der Fackeln hoch zur Kirche zum Osterfeuer. Stockfinstere Nacht. Mystische Stimmung. Der Rückblick in der dunklen Kirche aufs Kreuz. Die Spannung steigt. Die neue Osterkerze – jedes Jahr von Frauen unserer Gemeinde wunderbar gestaltet – wird am Osterfeuer angezündet und in die Kirche getragen. An drei Stationen ertönt das gesungene “Christus, Licht der Welt – Gott sei ewig Dank”. Die erfolgreichste Metapher der Weltgeschichte hält sichtbar Einzug: Das Licht ist da. Dann gehe ich zum Lesepult und stimme das sogenannte “Exsultet” an, das große Osterlob, den schönsten Text der christlichen Liturgie, ein einziger Triumph, ein Riesenjubel, einebetörende Verführung zum Glauben, ein Schein aus höchster Höhe. „Frohlocket, ihr Chöre der Engel, frohlocket, ihr himmlischen Scharen!“ In Pegnitz hab ich meinen Kantor darum beneidet. Einmal durfte ich ihn vertreten. Und jetzt in Gesees darf ich diesen uralten gregorianischen Gesang jedes Jahr selber anstimmen, der so gut in unsere alte Kirchenburg St. Marien passt. Ja, ich liebe es. Dann ist für mich Ostern.

Das große Osterlob, das nur ein einziges Mal im Kirchenjahr zu hören ist, gehört sprachlich zum Allerfeinsten, was die christliche Liturgie hervorgebracht hat, und damit erfüllt das Exsultet eine ganz wichtige Funktion. Es macht die heiklen österlichen Geheimnisse durch Schönheit zugänglich. Denn Ostern ist schwer. An Ostern kann man leicht scheitern. Ostern ist ein Mysterium, an dem für uns Christen alles hängt. An Ostern muss man glauben können, sonst ergibt alles andere keinen Sinn. Doch das Erlösungsgeschehen zu Ostern ist komplex. Es ist eine ganz harte Übung für Glaube und Verstand. Und genau da eröffnet das Exsultet einen dritten Weg: Den der Empfindung.

Das Exsultet (nach dem ersten Wort „exsultet“, „es jauchze“) ist uralt. Seine Wurzeln kann man bis in die Spätantike zurückverfolgen. Wahrscheinlich ist es vor gut 1½  Jahrtausenden im Umfeld des Ambrosius von Mailand entstanden. Klar ist, die Exsultet-Verfasser verfolgen in ihrem Hymnus einen hohen literarischen Stil mit reichem Schmuck: Viele Adjektive, eindringliche Bilder, altertümelndes Vokabular und dramatische Metaphern sollen Pathos erzeugen, das Gemüt überwältigen und letztlich von der Auferstehung überzeugen. Wer es hört, soll sich selber schon gleichsam auferstanden fühlen oder zumindest mitten in die Auferstehung hineingenommen. Es ist deshalb so suggestiv, weil es unglaubliche Glaubensinhalte und krasse Paradoxien am Verstand vorbeischmuggelt.Dem Exsultet gelingt es, den Kern des christlichen Glaubens – den stellvertretenden Sühnetod Jesu und die daraus folgende Erlösung – in höchster lyrischer Vollkommenheit zu verarbeiten. Wem nach diesem Gesang nicht klar ist, dass es sich um die “Nacht der Nächte” handelt, dem ist metaphysisch nicht mehr zu helfen.Mehr ist nicht drin. Das ist wortgewordene und vorweggenommene Erlösung. Transzendente Erlebnisse gibt’s ja nur selten im Leben. Wer eines sucht, könnte dem Exsultet in der Osternacht lauschen, am besten in der Geseeser Kirche – bis auf dieses Jahr, in dem alles ganz anders ist, wobei: Ich hab es mir auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen, es zu singen, ganz allein und ganz früh, noch vor Tagesanbruch.

Das Exsultet ist – wie die ganze Osternacht – eine großartige Inszenierung. Natürlich hat das was von Theater, schon wegen der Effekte und dem Schüren von Gefühl und Erschütterung. Das darf aber auch so sein, denn wie will man den Leuten sonst dieses Ostern näherbringen? Mit einem sachlichen Vortrag? Und dann – am Ende, weil der Text so schön war oder der alte gregorianische Gesang – da weiß man gar nicht mehr: Ist das alles noch eine Metapher – oder schon die Wahrheit?

                        Nach einem Artikel von Christina Rietz in der “ZEIT” aus dem Jahr 2017

Lieder zum Ostersonntag gespielt von Marko Zdralek.

Ostersonntag
Ostersonntag
Ostersonntag

Predigt über 1. Korinther 15, 12-28 Ostersonntag 12.04.2020

Lesung des Predigttextes: 1. Kor 15, 12-28

Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

Nachtgedanken am Karsamstag, 11.04.2020

Meditation über Psalm 22

(wie ich sie einmal geschrieben habe für den Beginn der Osternacht in der dunklen Kirche

als Erinnerung an das Todesdunkel Jesu, bevor die am Osterfeuer entzündete Osterkerze

hereingetragen und der Ostergesang angestimmt wird)

Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

– Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende

– Lass diesen Kelch vorübergehen

– Mein Leib und mein Blut. Sie aber schlafen. Die Welt schläft. Sie verschließen die Augen.

– Die Nacht rückt nahe.

– Die Nacht der Verzweiflung.

– Das Ende. Die Finsternis.

Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

– Verlassen und verraten. Geschlagen, gefoltert, gequält.

– Alles, was sich Menschen gegenseitig antun.

Psalm 22, 7-8: Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke. Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.

– Gekrönt mit Dornen. Unerträglicher Schmerz.

Psalm 22, 18-19: Ich kann meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.

– Mutterseelenallein. Vaterseelenallein.

Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

– Passionszeit, Leidenszeit, Klagezeit, Todeszeit.

– Ein Riss geht durch die Welt. Von oben nach unten. Ein Riss geht durch unser Leben. Der Himmel so weit weg, düster, verschlossen, schwarz.

Psalm 22, 2-3: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

– Aufruhr der Elemente – gottverlassen

– Ein einziger Schrei: Warum? Warum?

Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

Psalm 22, 16-17: Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde haben mich umgeben, und der bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

– Offene Gräber und offene Wunden

– Hinabgestiegen in das Reich des Todes

– Grabesruhe – Friedhofsschweigen

Psalm 22, 20: Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile mir zu helfen!

Bleibet hier und wachet mit mit mir, wachet und betet (Taizé-Vers)

STILLE

Karfreitag
Karfreitag
Marko Zdralek spielt Choräle zum Karfreitag auf der Geseeser Orgel.

Statt Nachgedanken: Predigt zum Karfreitag 10.04.2020 über 2. Korinther 5, 14b-21

Nachtgedanken am Donnerstag, 09.04.2020

Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Dietrich Bonhoeffer, EG 637

Am 9. April 1945, also heute genau vor 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer ganz in unserer Nähe, im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet – zwei Wochen vor der Befreiung durch die US-Armee. Ausführlich über Bonhoeffer zu schreiben sprengt meine Nachtgedanken. Aber ich habe mich heute am Gründonnerstag noch einmal ein wenig mit ihm beschäftigt, mit seiner Biographie (Ab 1935 Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde, das, später illegal, bis 1940 bestand; ab ca. 1938 Anschluss an den Widerstand um Wilhelm Canaris; 1940 Redeverbot, 1941 Schreibverbot, Verhaftung am 5. April 1943, zwei Jahre Haft; Ermordung auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers als einer der letzten NS-Gegner, die mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 in Verbindung gebracht wurden), mit seinen Gedichten (Von guten Mächten, Wer bin ich, Christen und Heiden), oft aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt, und mit seiner theologischen Gedankenwelt, etwa dem gerade auch in unserer säkularen Welt spannenden Versuch, religionslos und weltlich von Gott, Kirche, Gottesdienst oder Gebet zu sprechen.

Was sind schon unser Corona-Versammlungsverbot und die Ausgangsbeschränkungen gegenüber einer zweijährigen einsamen Haft ohne Außenkontakte, gegenüber den vor Angst zitternden Frauen und Kindern in den Luftschutzkellern, eng zusammengedrängt (während der schweren Angriffe auf Bayreuth am 8. April fand in Gesees der Konfirmationsgottesdienst statt. Die Mauern bebten, die Fenster zitterten; die Jugendlichen voller Angst vor Tieffliegern aus den umliegenden Dörfern von Straßengraben zu Straßengraben gerannt; einer wurde ohnmächtig; abwesende Väter und Großväter), gegenüber der Angst der Soldaten in den Schützengräben bei sibirischer Kälte vor Stalingrad oder bei Smolensk, wo mein Großvater gefallen ist, oder gegenüber dem Grauen in den Konzentrationslagern? Wenn ich mir dieses unvorstellbare Leid vergegenwärtige, dann finde ich alle Corona-Kriegs-Rhetorik vollkommen deplatziert und maßlos übertrieben.

Ein Referent im Landeskirchenamt hat einmal folgenden Text formuliert. Ich hab ihn nur leicht abgeändert:

Zwölf Möglichkeiten, Bonhoeffers Lebensstil zu finden

1. Halte Kontakt zu fröhlichen Menschen, behüte die Leuchtkraft deiner Lebensfreude.

2. Suche dir regelmäßig Zeit der Stille und pflege das Gebet wie eine liebgewordene Gewohnheit.

3. Öffne und interessiere dich für Politik und widme dem Leben der Gesellschaft einen Teil deiner Kraft und Ideen.

4. Bereichere dein Gesichtsfeld durch Beziehungen, die über die Grenze deines Landes und deiner Kultur weit hinausgreifen.

5. Freue dich über deinen Verstand, bediene dich seiner Möglichkeiten und scheue dich nicht, kritisch zu denken.

6. Schone das Wort “Gott”, schütze diesen verletzbaren Begriff, ersetze ihn lieber öfter durch Gedankenbilder deiner Wahl.

7. Achte darauf, welche menschlichen Kräfte auch in nichtkirchlichen Gruppen wohnen, und mache dort Entdeckungen.

8. Denke und sprich gut von den Menschen, auch von schwierigen und widerständigen Zeitgenoss*Innen.

9. Bewahre dir deine Lebenshoffnung und verteidige leidenschaftlich die Überzeugung, dass Glück auf dich wartet.

10. Entziehe dich nie der Verantwortung, gib durch dein Verhalten auf jede aktuelle Situation mutig eine neue Antwort.

11. Nutze jede Gelegenheit zu Sport und Spiel, beides macht dich mit anderen zusammen zu “Kindern der Erde”.

12. Trainiere deine Musikalität: Konzerte, Hausmusik, Gesang und Tanz beflügeln deine Sinne und schaffen Gemeinschaft.

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 08.04.2020

Herr, deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht Psalm 36, 6.10)

Gelesen, für gut befunden, leicht bearbeitet und gekürzt und weitergegeben. Danke für den schönen Text!

Es könnte sein, dass in Italiens Häfen die Schiffe für die nächste Zeit brachliegen, … es kann aber auch sein, dass sich Delfine und andere Meereslebewesen endlich ihren natürlichen Lebensraum zurückholen dürfen. Delfine werden in Italiens Häfen gesichtet. In Venedigs Kanälen schwimmen wieder Fische.

Es könnte sein, dass sich Menschen in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt fühlen, … es kann aber auch sein, dass sie endlich wieder miteinander singen, sich gegenseitig helfen und seit langem wieder ein Gemeinschaftsgefühl erleben.

Es könnte sein, dass die Einschränkung des Flugverkehrs für viele eine Freiheitsberaubung darstellt und berufliche Einschränkungen mit sich bringt, … es kann aber auch sein, dass die Erde aufatmet, der Himmel an Farbkraft gewinnt und Kinder in China zum ersten Mal in ihrem Leben in einen blauen Himmel schauen.

Es könnte sein, dass die Schließung von Kindergärten und Schulen für viele Eltern eine immense Herausforderung bedeutet, … es kann aber auch sein, dass viele Kinder dadurch die Chance bekommen, selber kreativ zu werden, selbstbestimmter zu handeln und langsamer zu machen, und auch Eltern ihre Kinder auf einer neuen Ebene kennenlernen.

Es könnte sein, dass unsere Wirtschaft einen ungeheuren Schaden erleidet, … es kann aber auch sein, dass wir endlich erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben und dabei lernen, dass ständiges Wachstum eine absurde Idee der Konsumgesellschaft ist, dass wir selbst längst zu Marionetten der Wirtschaft geworden sind, und wie wenig wir tatsächlich zum Leben brauchen.

Es könnte sein, dass dich das auf irgendeine Art und Weise überfordert, … es kann aber auch sein, dass du spürst, dass in dieser Krise auch eine große Chance liegt für einen grundlegenden Wandel,

– der die Erde aufatmen lässt,

– der die Kinder mit lange vergessenen Werten in Kontakt bringt,

– der unsere Gesellschaft enorm entschleunigt,

– der die Geburtsstunde für eine neue Form des Miteinander sein kann,

– der die Müllberge wenigstens für ein paar Wochen reduziert

– und der uns zeigt, wie schnell die Erde bereit ist, ihre Regeneration einzuläuten, wenn wir Menschen Rücksicht auf sie nehmen und sie wieder atmen lassen.

Wir werden wachgerüttelt, weil wir nicht bereit waren, es selbst zu tun. Es geht um die Zukunft, um unsere und die unserer Kinder und Enkelkinder.

Nacht-Gedanken am Dienstag, den 07.04.2020

Du schenkst uns Zeit, damit wir uns besinnen

und, wenn es nötig, Neues auch beginnen.

Herr, lass uns stille werden, dass wir sehn:

Du willst zu aller Zeit mit uns durchs Leben gehn.

EG 592.1 (Text und Melodie Hannes Köbler 1986)

Noch einmal aus dem jetzt abgehängten Aushang in der Haager undGeseeser Kirche:

Gottesdienste sind abgesagt, aber …

Ergänzen Sie doch einfach!

Vogelgezwitscher vor dem ersten Licht – nicht abgesagt!

Narzissen – nicht abgesagt! …

– Vorfreude auf Ostern nicht abgesagt

– Atem holen, aufatmen, zur Ruhe kommen – nicht abgesagt

– Nachdenken, was wirklich zählt und wichtig ist – nicht abgesagt

– Osterfreude – nicht abgesagt

– Ostereier suchen – nicht abgesagt

– Löwenzahn, Tulpen, Osterglocken und alle Blumen-Farbtupfer – nicht abgesagt

– Gott suchen – nicht abgesagt

– Hoffnung haben – nicht abgesagt

– Still werden und hören – nicht abgesagt

– Sich um Mitmenschen kümmern, ihnen Mut machen durch Briefe, Nachrichten, Geschenke – nicht abgesagt

– Die Natur erwacht – nicht abgesagt

– endlich mal zu dem kommen, wozu sonst nie Zeit ist – nicht abgesagt

– Vollmond und wunderbarer Sternenhimmel – nicht abgesagt

– gemeinsam hoffen – nicht abgesagt

– in Haag: Glauben, beten, danken, hoffen, singen – nicht abgesagt

Übrigens hängt in unserer Kirche jetzt ein Karfreitags-Impuls und ein Oster – Impuls zum Weiterschreiben und Mitteilen in Corona-Zeiten! Kinder malen Karfreitagsbilder und Osterbilder, die wir in der Kirche ausstellen. Unser Landesbischof hat einen Osterbrief veröffentlicht. Er liegt in der Kirche zum Mitnehmen aus. Die Kirche ist von mittags bis abends geöffnet.

Nacht-Gedanken am Montag, den 06.04.2020

Und Jesus streckte die Hand aus und rührte ihn an… (Matthäus 8, 3)

Vor 38 Jahren hab ich mir ein Buch gekauft und mit Begeisterung gelesen. Jetzt, in Corona-Zeiten, hab ich es wieder aus dem Bücherregal hervorgeholt: “Die Pest” von dem französischen Literaturnobelpreisträger Albert Camus, geschrieben unter den Eindrücken des 2. Weltkrieges im Jahr 1946 und einer der bedeutendsten Romane der europäischen Kulturgeschichte – in Frankreich immerhin Pflichtlektüre an den Schulen.

Camus erzählt den Verlauf einer Pestepidemie in der algerischen Stadt Oran aus Sicht der Hauptfigur des Dr. Bernard Rieux. Einige tote Ratten und ein paar harmlose Fälle einer unbekannten Krankheit stehen am Anfang einer verheerenden Pestepidemie, welche die ganze Stadt in einen Ausnahmezustand bringt, sie von der Außenwelt abschottet und mehrere tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das menschliche Dasein der Bevölkerung. Jeder kämpft auf seine Weise gegen den Schwarzen Tod. Rieux tut das als Arzt wie Sisyphos (“Der Mythos des Sisyphos“, wichtiger Essay Camus’ als Grundlage seiner Philosophie des Absurden; in der griechischen Mythologie muss Sisyphos zur Strafe in der Unterwelt einen Felsblock einen steilen Berg hochrollen, was ihm kurz vor dem Ziel immer misslingt, so dass er von Neuem anfangen muss; sprichwörtlich sprechen wir von Sisyphosarbeit für vergebliche Anstrengung)und gerät unter anderem mit dem Pater Paneloux in Konflikt, der die Pest als Strafe Gottes zur Züchtigung des Menschen deutet. Camus verstand sich als Atheist und lehnte Religion ab.

In dem Roman verarbeitet Camus seine Erfahrungen in der Résistance (französische Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung), die lange Trennung von seiner Frau und ebenso lange Krankenhausaufenthalte wegen seiner Tuberkulose. Der Roman über das Alltagsleben im Belagerungszustand, über das Leben hinter dem Stacheldraht, reflektiert den Widerstand der Menschen gegen physische und moralische Zerstörung und ist ein großes Plädoyer für die Solidarität der Menschen im Kampf gegen Tod und Tyrannei und für die humanistischen Werte Freundschaft, Verbundenheit, Zusammenarbeit und Liebe. Nicht von ungefähr überleben vor allem die Figuren, die sich in der Krise solidarisch zeigen. Am Ende drückt Dr. Rieux aus, was ihn für seine Aufzeichnungen motiviert, nämlich zu “schildern, was man aus den Heimsuchungen lernen kann, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.”

Gebe Gott, dass das auch unsere Erfahrungen sein werden nach dem Abklingen der Corona-Pandemie!

Statt Nachtgedanken: Predigt zum Palmsonntag 05.04.2020 über Markus 14, 3-9

Nacht-Gedanken am Samstag, den 04.04.2020

Jesus Christus spricht:

Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe

(Johannes 10, 14-15)

Herdenimmunität – Im großen Internetlexikon Wikipedia lese ich dazu: “Herdenimmunität bezeichnet eine indirekte Form des Schutzes vor einer ansteckenden Krankheit, die auftritt, wenn ein hoher Prozentsatz einer Population immun wurde – sei es durch Infektion oder durch Impfung – sodass ein erhöhter Schutz auch für die nicht-immunen Individuen entsteht.”

Es ist ja interessant, mit welchen Phänomenen wir uns in Corona-Zeiten beschäftigen und auseinanderzusetzen haben. Wir lernen täglich dazu. Sonderlich schmeichelhaft ist das freilich nicht, wenn die Menschheit hier zur “Herde” degradiert wird. Das klingt nach mittrotten und hinterhertrotten, wo wir doch sonst auf unseren Individualismus, auf Konsum und Reiselust und auf alle unsere Freiheiten so stolz sind. Eine Herde von dumpfen, hilflosen Schafen, die nur am Fressen interessiert sind, und die in Corona-Zeiten nicht einmal als Herde existieren dürfen, sondern mit Kontaktverbot belegt in ihren Ställen hausen und vor sich hinvegetieren. Stellt sich da nicht ganz automatisch die Frage nach dem Hirten? Führt die Herdenimmunität auch zur Immunität gegenüber ihrem Hirten? Unsere Gesellschaft hat vor Corona überwiegend so gelebt, als ob es kein Morgen, als ob es keinen Gott, als ob es keinen guten Hirten gäbe. Und sie wird es wohl auch danach wieder tun. Und trotzdem bin ich gerade in diesen Tagen heilfroh, dass ich mich im dunklen Tal der steigenden Corona-Fallzahlen, der Todesnachrichten und Hiobsbotschaften einem guten Hirten anvertrauen kann, “der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt” (EG 593.1 Weil ich Jesu Schäflein bin). Dieses Vertrauen wünsch’ ich euch und ich wünsch’ es unserer ganzen Gesellschaft, das Urvertrauen ins Leben und in den, der es liebevoll in seinen Händen hält. Holt es euch doch einmal aus der Zeit eurer Kindheit und Konfirmandenzeit hervor, das Urgebet des Vertrauens, das Gebet vom guten Hirten, den 23. Psalm: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…

Nacht-Gedanken am Freitag, den 03.04.2020

… und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen (Jesaja 42,2)

… und führen, wohin du nicht willst (Johannes 21, 18)

Was macht eigentlich ein Pfarrer in Corona-Zeiten? Tja, gute Frage!

Alles bricht weg: Gottesdienste, Begegnungen, (Seelsorge-)Gespräche, Besuche, Treffen, Sitzungen, also alles, was mein bisheriges Tun ausgemacht hat. Bleiben eigentlich nur noch Computer und Smartphone, und da hinke ich meiner Zeit hoffnungslos hinterher.

Ich wollte eigentlich immer ein “analoger” und kein “digitaler” Pfarrer sein. Das hab ich jetzt davon, dass ich der neuen Technik immer misstrauisch begegnet bin, bzw. mich nie sonderlich dafür interessiert hab! Und jetzt? Immerhin hab ich einen Computer – das Zeitalter ist also doch nicht ganz spurlos an mir vorbeigegangen, und Lissy hat mir sogar fast etwas gegen meinen Willen ein Smartphone gekauft, das ich meistens vergesse und auf meinem Schreibtisch liegen lasse. Und es ist wirklich erstaunlich: Ich lerne auf meine alten Tage tatsächlich noch was dazu, und daran sind einige junge Geseeser Familien schuld: “Ekki, Könntest du nicht mal was aufnehmen, eine Bibelgeschichte erzählen, ein Gebet, ein Lied, das du mit den Kindern in der KiTa gesungen hast, das sie kennen.” Oh! Wie soll das gehen? Ich hab doch keine Ahnung! Also hab ich mich hingesetzt und ausprobiert und tatsächlich ein Liedchen aufgenommen mit meiner Gitarre und an die interessierten Eltern geschickt. Die haben’s geteilt und immer weiter geteilt. Jetzt hören sich schon über 60 Familien meine Liedchen an, so viele, wie ich sonst nie erreiche über die MiniKinderKirche oder andere Angebote. Seltsam, zu den einen, zu den älteren Menschen, hab ich in diesen Zeiten kaum noch Kontakt und fühl mich wie abgeschnitten – abgesehen von Telefonanrufen. Dafür öffnet sich plötzlich die Tür zu einer ganz neuen Welt, Kinder, die sich freuen und mir das als rührende Sprachnachricht schicken, Eltern, die von der Reaktion ihrer Kinder erzählen. Willkommen im digitalen Zeitalter! Ich werd’ mich wohl doch noch etwas intensiver damit befassen müssen. Die Eltern machen mir Beine und stacheln mich mit ihren Ideen an. Schadet nichts. Danke!

Nacht-Gedanken am Donnerstag, den 02.04.2020

Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen

und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten

und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn (Matthäus 9, 35-36)

“Ob er aber über Oberammergau, oder aber über Unterammergau, oder aber überhaupt nicht kommt, des ist netg’wiss.” Doch: In Corona-Zeiten ist es g’wiss: Er kommt nicht. Auf der Homepage ist zu lesen: “Die 42. Oberammergauer Passionsspiele werden aufgrund der aktuellen Situation durch die Corona-Pandemie verschoben,” und zwar auf das übernächste Jahr 2022. Das gab es seit 1633 nicht mehr, als in Oberammergau während des Dreißigjährigen Krieges die Pest wütete und die Bevölkerung ein Gelübde ablegte, alle zehn Jahre die Passion Christi nachzuspielen, wenn Gott den Ort in Zukunft verschonen würde. Der Ort blieb verschont, weil die Bevölkerung niemanden mehr hineinließ und sich sozusagen ins Selbstisolation begab. Nur 1770 fanden keine Passionsspiele statt, damals wegen politischer Auseinandersetzungen, und dann 1940 nach dem Beginn des 2. Weltkrieges. Wegen einer Pandemie jedenfalls wurden die Tore seit 387 Jahren nicht mehr geschlossen. In einem Interview sagt der Jesus-Darsteller Frederik Mayet:

“Seuche, das ist mir jetzt klar geworden, bedeutet Isolation. Die Menschheit scheint in den vergangenen 400 Jahren keinen anderen Weg gefunden zu haben. Vielleicht waren die Bauern mit ihren Vorräten damals sogar besser darauf vorbereitet. Noch meine Großeltern hatten genügend Kartoffeln, Marmelade und Weckgläser im Keller gelagert, um über einen Winter zu kommen. Mir gelingt das ohne Supermarkt heute nicht. Man kann ja nur spekulieren, was Jesus zu all dem gesagt hätte, aber so, wie ich ihn verstehe, würde er jetzt zuerst an die Menschen denken. Ihm wäre wichtig, dass sie unbeschadet bleiben, die Mitwirkenden, die Gäste, die Helfer. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden als hysterisch abstempeln würde: Er würde jedem Angst und Furcht vor einer Infektion zugestehen. Gleichzeitig würde er wohl Zuversicht und Augenmaß predigen, so, wie er es immer getan hat.”

Ist es heute Zeit für ein neues Gelübde? Es ist gut, dass wir heute Krankheiten nicht mehr als Strafe Gottes verstehen. Dabei hatte doch eigentlich schon Jesus dieses Stigma durchbrochen und sich den kranken und bedürftigen Menschen zugewandt. Das ist immer noch die vordringliche Aufgabe, auch in diesen Corona-Tagen.

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 01.04.2020

Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit (Hebräer 13, 8)

Ein Klassenkamerad von mir, Rolf-Bernhard Essig, Buchautor, Entertainer, Dozent, Kritiker, Moderator und vor allem passionierter Redensartenforscher gilt inzwischen fast als „Indiana-Jones“ der Sprachschätze. Über die Redewendung „In China ist ein Sack Reis umgefallen“, mit der man abfällig-scherzhaft sein Desinteresse zeigt oder die absolute Bedeutungslosigkeit eines Themas ausdrückt, sagt er in einer Sendung: “Es geht um die Unerheblichkeit von etwas. Wenn jemand großes Gewese macht, dann sagt man halt: ‘Na ja, also was du da machst oder ob ein Sack Reis in China umfällt, ist das Gleiche’ … Es geht immer darum, dass etwas unglaublich häufig ist und Reissäcke gibt es natürlich ganz, ganz viel. Irgendwo in China fällt immer ein Reissack um, aber der andere, der tut so, als wäre wer weiß was passiert.” Anders ausgedrückt: Komm, reg dich nicht auf, das ist genauso wichtig oder genauso interessant wie wenn in China ein Sack Reis umfällt, also gar nicht. Völlig unerheblich.

Wir erleben in Corona-Zeiten das Gegenteil: Nicht ein Sack Reis ist in China umgefallen, aber ein Virus hat sich von dort ausgebreitet, der jetzt unsere ganze Welt in Atem hält und lahm legt. Also: Gerade auch winzigste Dinge können immense globale Auswirkungen haben. Man könnte das zusätzlich noch mit dem berühmten “Schmetterlingseffekt” aus der Chaostheorie des amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz bekräftigen: Ein Schmetterling, der zum Beispiel in Shanghai – schon wieder China – mit seinen Flügeln wackelt, könnte damit theoretisch einen Wirbelsturm in New York auslösen. Kleine Ursache – große Wirkung. Die Chaostheorie spricht dabei lieber wissenschaftlich von der „Dynamik nicht linearer Systeme“ oder der „Komplexitätstheorie“. Es ist eben nicht so, dass mit zunehmender Forschung alle künftigen Entwicklungen in der Welt prinzipiell vorausberechnet werden können.

Wegen allerkleinster Abweichungen sind langfristige Aussagen über die Zukunft praktisch nirgendwo möglich. Beim Wetter leuchtet das unmittelbar ein. Die Chaostheorie stellt das aber auch z.B. für die Umlaufbahnen der Planeten und Monde in unserem Sonnensystem fest. Welches Chaos ein unsichtbarer Virus auslösen kann, erleben wir in diesen Tagen. Kein Mensch hätte damit gerechnet, außer vielleicht ein paar belächelten Virologen, die heute alles andere als belächelt werden. Wenn es nicht so erschreckend wäre, müsste man darüber staunen.

Nachtgedanken am Dienstag, den 31.03.2020

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost,

ich habe die Welt überwunden (Johannes 16, 33)

Heute kam eine Rundmail des Liedermachers und Pfarrers Wolfgang Buck, die mich zu Tränen gerührt hat:

„ZUVERSICHT – 7 WOCHEN OHNE PESSIMISMUS“.

Wer hätte gedacht, dass dieses Motto der Fastenzeit so schnell noch so viel mehr unter die Haut gehen wird? Nur, dass wir jetzt eher nicht von sieben Wochen, sondern von sieben Monaten reden, oder noch mehr? Dass das angeblich 365 mal in der Bibel vorkommende „Fürchtet euch nicht!“ so existentiell wichtig sein wird?

Deshalb will ich Ihnen und Euch auch in meinem Rundbrief Mut machen. Ich denke, dass die notwendigen Maßnahmen viele von uns richtig schwer treffen. Aber ich habe das Vertrauen, dass es im Großen und Ganzen die richtigen Maßnahmen sind. Ich habe auch den Eindruck, dass die meisten unserer Politiker und Experten sehr ernsthaft und intensiv an komplexen Lösungen arbeiten, dass zur Zeit die Parteipolitik, die Herabsetzung des politischen Gegners und die eitle Selbstdarstellung fast vollkommen in den Hintergrund getreten ist.

Und das macht mir Mut im Blick auf unsere ganze Gesellschaft, auf die Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt. Wir werden da hindurch kommen und uns in sechs, neun oder zwölf Monaten wieder umarmen, miteinander essen, ins Konzert, ins Theater oder ins Stadion gehen. Und uns überlegen: Was müssen wir in Zukunft ändern, in unserem Leben, in unserer Gesellschaft, in unseren Prioritäten und Gewohnheiten? Und wir werden das reine Denken in Gewinnmaximierung, z.B. im Gesundheitssystem, korrigieren müssen. Dass wir die, die jetzt Tag und Nacht arbeiten, die wahren Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, viel besser honorieren müssen.

Ich bin schon immer froh, in diesem Land zu leben, aber jetzt ganz besonders. Ich habe ein Dach über den Kopf, muss nicht im Schlamm eines Flüchtlingslagers leben, habe sauberes Wasser aus der Leitung, muss nicht hungern und kann zum Arzt. Und auch hier wird so klar, dass diejenigen, die seit ein paar Jahren versuchen, unser Land und unsere Demokratie und unser freiheitliches System schlecht zu reden, im Augenblick der Krise ihr vergiftetes Süppchen nicht an die Bürger*innen bringen. Sie haben schon versucht, bei der Aufnahme von einer Million Geflüchteten die Kraft dieses Landes und die Liebe seiner Menschen kleinzureden, und auch diesmal stimme ich Angela Merkels altem Satz zu: Wir schaffen das. Betonung auf „wir“, und nicht auf „ich“. Aber jetzt erstmal: Abstand halten, geduldig sein, Mut machen, uns nicht gegenseitig herunterziehen.

WIE IST DIE LAGE BEI MIR PERSÖNLICH UND BEI DEN KONZERTEN?

Darum will auch ich nicht jammern. Die Lage ist genau so, wie Sie sich denken können. Ich wage keine Prognose, wann wieder Konzerte stattfinden können. 80% meiner Einkünfte sind Konzertgagen, dazu Einnahmen aus der GEMA, die es zum Glück für uns Komponisten und Textdichter gibt, und ein paar CD-Verkäufe. Aber zum Glück ist der Winter sehr gut gelaufen mit vielen ausverkauften Konzerten, und aweng kann ich im Augenblick schon überbrücken. Also macht Euch bitte um mich keine Sorgen, ich komm schon über die Runden. Kommt darauf an, wie lange es dauert. Es gibt gerade im Kunstbereich viele wunderbare Kolleginnen und Kollegen, die sich schon in normalen Zeiten gerade über Wasser halten können, die es jetzt unmittelbar und hart betrifft.

Lesen, Kochen, Sofa, Gitarre, Homerecording, Finanzbuchhaltung 2019 (war noch nie so früh dran), a wengnaus, telefonieren, Internet, Schlafen…

Nacht-Gedanken am Montag, den 30.03.2020

Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren,
meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.
Kommet zuhauf,
Psalter und Harfe, wacht auf,
lasset den Lobgesang hören!
EG 317.1 (Text: Joachim Neander 1680)

Heute feiert meine Mutter ihren 82. Geburtstag, wobei an Feiern in dieser Corona-Zeit nicht zu denken ist. Feiern abgesagt! Keiner wird kommen, aber alle werden anrufen und dran denken. Und das Feiern wird einfach nachgeholt, wenn es wieder soweit ist. Und so geht es mir in diesen Tagen immer: Ich werfe mein Heftchen ein mit guten Wünschen und versuche, das Geburtstagskind telefonisch zu erreichen. Und nirgendwo höre ich ein Klagen oder Jammern, sondern überall: Es ist halt so. Wir machen das Beste daraus. Beschäftigen uns selbst, telefonieren, lesen, schauen fern, gehen spazieren. Wir sind vernetzt. Andere kümmern sich. Unser Netz trägt. Und: Wir haben’s doch so gut bei uns! Faszinierend, wie wir Menschen uns innerhalb kürzester Zeit auf völlig neue Situationen einstellen. So hab ich das jedenfalls bisher erlebt bei meinen Telefonaten. Sicher gibt es auch die andere Seite und es kann sich auch alles ändern. Gebt mir doch Bescheid: Ich ruf euch gerne an!

Und meine Mutter in der letzten Woche ziemlich aufgekratzt am Telefon, zwar etwas makaber, aber doch auch ganz realistisch und trotzdem lebenslustig lachend und dem Leben zugewandt: “Ach, und wenn ich in dieser Zeit sterb’, dann ist das nicht schlimm. Dann hebt ihr halt die Urne auf und kommt dann wieder zusammen, wenn’s möglich ist. Hauptsache ihr kommt zusammen. Und dann denkt ihr an mich.”Heute gratulieren wir ihr telefonisch und jede Familie singt ihr Geburtstagsständchen durchs Telefon mit einer Strophe unseres Familien-Geburtstagslieds „Lobe den Herren“. Ist halt so in Corona-Zeiten.

Statt Nachgedanken am Sonntag: Predigt über Markus 10, 35-45

Nacht-Gedanken am Samstag, den 28.03.2020

Du schenkst uns Zeit, einander zu begegnen,

Du willst zu aller Zeit mit uns durchs Leben gehn.

EG 592.1 (Text und Melodie Hannes Köbler 1986)

Aus dem Aushang an unserer Geseeser Kirche:

Gottesdienste sind abgesagt, aber …

Ergänzen Sie doch einfach – der Kirche haben Sie die Möglichkeit!

Vogelgezwitscher vor dem ersten Licht – nicht abgesagt!

Narzissen – nicht abgesagt!

Lachen – nicht abgesagt!

Singen – nicht abgesagt!

Tanzen auf der Wiese – nicht abgesagt!

Beten – nicht abgesagt!

Bitten und Danken – nicht abgesagt!

Mal wieder richtig telefonieren statt whatsappen – nicht abgesagt!

Mit der Familie spielen – nicht abgesagt!

Gemeinsam lachen – nicht abgesagt!

Lilie – nicht abgesagt!

Die Erde verschnaufen lassen – nicht abgesagt!

Lieben – nicht abgesagt!

Kuscheln – nicht abgesagt!

Sich neu kennenlernen – nicht abgesagt!

Träumen – nicht abgesagt!

Spielen – nicht abgesagt!

Familienzeit, Gartenzeit, Lesezeit – nicht abgesagt!

Nacht-Gedanken am Freitag, den 27.03.2020

Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Offenbarung 3, 11b

Corona, lateinisch: Der Kranz, der Kreis von Zuhörern, die Truppenkette, die Krone, das Diadem; später auch der Mauerring, die Gebirgskette, die Tonsur. Heute in Corona-Zeiten viel bespöttelt: mexikanisches Bier.

Gestern war am klaren Abendhimmel eine winzig schmale Mondsichel zu sehen, Sonnenlicht, das den Rand des Mondes beleuchtet. Sogar der viel größere unbeschienene Teil des Mondes war gut zu erkennen.

Am Mittag, dem 11. August 1999 kurz nach halb eins konnte in Deutschland ein anderes himmlisches Phänomen beobachtet werden: Die einzige totale Sonnenfinsternis in Deutschland zu meinen Lebzeiten: Dunkelheit mitten am Tag, die Hunde heulen, die Vögel verstummen, die Temperaturen sinken, die Blumen schließen ihre Blüten und nur noch ein weißer Lichtkranz ist am Himmel zu sehen. Korona, mit “K” geschrieben, kein Virus, sondern ein ganz besonderes Himmelsspektakel. Ich hab es damals verpasst, weil ich mit einem Freund um die Insel Rügen rumgesegelt bin, und dort im hohen Norden war die Sonnenfinsternis leider nicht total.

Aber wir hatten sie vorbereitet mit einem der 10vor11-Gottesdienste “am Puls der Zeit” in Pegnitz, ja, wir waren unserer Zeit sogar voraus. Über diesen Coup kann ich mich heute noch freuen. Wir hatten nämlich unsere Gottesdienstbesucher schon einen Monat vorher unter dem Titel “Korona” auf die Sonnenfinsternis eingestimmt. Am Ende bekam jeder von uns eine extra Sonnenfinsternisbrille geschenkt. Als kurze Zeit später der Hype um die Sonnenfinsternis so richtig losging, waren die Brillen schnell ausverkauft. Die 10vor11-Besucher hatten dagegen ausgesorgt. Merke: Manchmal kann es in jeder Hinsicht und so richtig gut sein, zum Gottesdienst zu gehen! Profitieren tut man immer, mit oder ohne Brille! Korona statt Corona – jedenfalls denk ich lieber daran. Und passend dazu aus dem Sonnengesang von Franz von Assisi:

Gepriesen seist du, mein Herr, mit allen geschaffenen Wesen,

Mit der strahlenden Sonne, der Schwester,

Durch die du uns leuchtest am Tage.

Schön ist sie und stark im hellen Entbrennen.

Sie trägt dein Zeichen, du Höchster!

(aus dem Sonnengesang des Franz von Assisi)

Nacht-Gedanken am Donnerstag, den 26.03.2020

Fürchte dich nicht!

Am 13. Februar 1986 bin ich zum ersten Mal Vater geworden, gerade mal 23 Jahre jung.

2 ½ Monate später seh ich uns noch am 1. Mai wandern durch die wunderbar zartgrünen Buchen- und Kastanienwälder an den Hängen des Odenwalds rund um Heidelberg. Ich trug damals Klein-Jonathan im Tragetuch vor dem Bauch. Es war heiß, aber dann kam ein erfrischender Regenschauer mit Blitz und Donner. Wir waren durchnässt bis auf die Haut. Tage später sickerten dann die ersten Nachrichten von der katastrophalen Explosion des Atomreaktors am 26. April in Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion durch den eisernen Vorhang. Super-GAU: Größter Anzunehmender Unfall. Wir reagierten vollkommen panisch. Wochen-, ja monatelang sind wir kaum vor die Haustür gegangen. Es wurde davon abgeraten. Kein Spielplatz, kein Sandkasten, nicht die wunderbaren Neckarwiesen, wo sich im Sommer die Studierenden trafen, um die Sonne zu genießen. Wir verglichen pausenlos Becquerel-Werte und kauften nur Produkte aus der Zeit vor Tschernobyl. Kein frischer Salat, kein frisches Obst, kein frisches Gemüse.

An diese bedrückenden Wochen musste ich in den vergangenen Tagen oft denken. Virus und Strahlung sind gleichermaßen unsichtbar. Das macht sie so unheimlich. Man fühlt sich so ausgeliefert. Gestern hab ich mit Jonathan telefoniert. Er ist Arzt an der Uni-Klinik in Leipzig. Dort werden jetzt die ersten Patienten aus Italien versorgt. Noch ist es relativ ruhig, sagt er, aber sie sind vorbereitet. Hoffentlich.

Fürchte dich nicht – Fürchtet euch nicht: Angeblich steht das 365 x in der Bibel. Ich hab’s nie nachgezählt. Es ist die Grundbotschaft der Bibel. Für jeden Tag im Jahr: Fürchte dich nicht – Fürchtet euch nicht. Nein, Angst hab ich eigentlich nicht. Und ich bin froh, dass ich nicht mehr so panisch reagiere wie damals nach Tschernobyl.

Nacht-Gedanken am Mittwoch, den 25.03.2020

Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht

und nicht der Mensch um des Sabbats willen (Markus 2, 27)

Alle müssten in der Coronakrise Opfer erbringen, sagte der texanische Vizegouverneur Dan Patrick. Aber die Wirtschaft müsse weiterlaufen. Er selbst sei bereit, dafür sein Leben zu geben. Und weiter sagte der Politiker in einem Fernsehinterview auf Fox News: Es könne nicht sein, dass die Wirtschaft der Coronakrise geopfert werde. Man müsse wenigstens diskutieren, ob nicht die älteren Bürger geopfert werden.

So hab ich es gestern im Internet gelesen und bin empört und stinksauer: Die Wirtschaft soll absoluten Vorrang haben vor den Menschen, vor denen, die dafür gesorgt haben, dass es uns heute so gut geht, vor unseren Vätern und Müttern, vor uns selbst, die wir auf die 60 zugehen? Soll die Wirtschaft tatsächlich entscheiden zwischen wertvollem und wertlosem Leben und der einzige Maßstab sein – mal ganz abgesehen von der Frage, wo die Grenze zwischen jung und alt zu ziehen ist, und dass auch viele Jüngere betroffen sind, zum Teil sogar ohne Vorerkrankungen? Ich wünsche diesem zynischen Politiker nicht, dass er eine Enkeltochter hat, die an Bronchialasthma leidet oder einen Enkelsohn, der mit einem Loch im Herzen auf die Welt gekommen ist und operiert werden musste. Nein, in so einer Welt möchte ich niemals leben! Und ich finde, gerade jetzt in der Krise zeigt sich, was und wer wirklich systemrelevant ist: Das sind nicht die Aufsichtsräte und Vorstandsmitglieder mit ihren Millionengehältern und Zusatzboni, das sind nicht die Fußballer mit ihren Millionenablösesummen und Riesenfuhrparks, sondern die Krankenschwestern und -pfleger in den Pflegeheimen und Krankenhäusern, die Kassiererinnen in den Supermärkten, die Erzieherinnen in den KiTas, alle miteinander unterbezahlt und hart an der Mindestlohngrenze. Wenn wir was lernen aus dieser Krise, dann das: Dass das Leben Vorrang hat – nichts anderes hat Jesus gepredigt und gelebt -, dass jeder Mensch wertvoll ist und Würde besitzt, und dass die Schere zwischen arm und reich nie mehr so weit auseinandergehen darf wie vor dieser Krise. Der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns ist nicht wichtiger als eine Verkäuferin an der Supermarktkasse. Die Wirtschaft darf keinen Vorrang vor Menschenleben haben!

Nacht-Gedanken am Dienstag, den 24.03.2020

Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde;

wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.

Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten

(Psalm 103, 15-17)

Mit dem letzten Update vom Freitag ist unser Kerngblättla jetzt beim Layouten, Korrekturlesen und Drucken, und es ist wie es ist. Vieles ist sicher schon wieder längst überholt, wenn es erscheint und ausgetragen ist. Aber ich schreib einfach weiter, nicht mit immer neuen updates, die am nächsten Tag schon wieder Schnee von gestern sind, sondern eher als regelmäßig-unregelmäßiges (Corona-)Tagebuch, das, was mich beschäftigt und bewegt.

Heute z.B. hätte in Gesees der Vorstellungsgottesdienst stattfinden sollen. Raten Sie mal, welches Thema wir uns ausgesucht hatten? Richtig, den Corona-Virus! Damit wären wir topaktuell gewesen. Tja, und dann hat uns prompt dieser Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht und die Realität hat uns überrollt. Eine gute Woche vorher konnte noch kein Mensch ahnen, mit welch rasender Geschwindigkeit sich dieser unsichtbare Monster-Virus in der ganzen Welt ausbreitet. Dabei stehen wir erst ganz am Anfang. Eigentlich wollten wir es heute humorvoll anpacken, aber inzwischen ist mir der Humor vergangen, wenn ich an die Menschen hinter den Sauerstoffmasken denke, an die Ärzte und das ganze Krankenhauspersonal unter Dauerbelastung, an das Personal in den Seniorenheimen, an meine katholischen Kollegen in Bergamo, die noch Krankenbesuche gemacht haben und unheimlich viele von ihnen haben sich unbewusst angesteckt und sind gestorben, überhaupt an die Menschen in Italien, die Familie meines Bruders in Mailand usw.

So war ich am Vormittag in der Kirche, ganz für mich allein, hab gebetet, gelesen, ein Lied gesungen, ein bisschen Gitarre gespielt – bei offener Kirchentür. Den ganzen Sonntag über war die Kirche offen. Ich glaube, wir lassen das in den nächsten Tagen zumindest am Nachmittag auch so. Vielleicht kommt ja der ein oder andere, weil er das Bedürfnis hat. Und ich kann wirklich sagen, es tut gut.

Ihr Pfarrer Ekkehard de Fallois.

Eine originelle Ansprache von Dagmar Pfeifer finden Sie unter Predigten 2019